Wir laufen durch das 10. Arrondissement in der Nähe von Gare de l’Est. Ein Städtetrip rund um Pfingsten. Der Nachwuchs und man selbst sollen kulturell wieder etwas angefüttert werden. Typisch Bildungsbürgertum. Old School. Aber so habe ich es als Kind erlebt. So möchte ich es weitergeben.
Und doch: Die Straßen sind staubig. Voller Menschen. Es wird eng im Gedränge. Es ist laut. Bei 32 Grad sommerlicher Hitze. Der familiäre Geduldsfaden spannt sich. Auch bei mir. Etwas genervt hebe ich meine Augen zum stahlblauen Pariser Himmel. Ein Stoßgebet?

Mein Blick fällt auf eine überdimensionierte und doch zierlich gestaltete Schnecke. Sie thront prachtvoll oberhalb des Portals eines Restaurants. Wie nett, denke ich. Etwas weiter die Straße entlang drehen die verschnörkelten Zeiger einer Jugendstiluhr unermüdlich ihre taktvollen Runden an einer Hausfassade im dritten Stock. Für den Betrachter unten kaum zu erkennen. Aber sie brauchen keinen Applaus. Sie sind einfach da. Wie selbstgenügsam-schön, durchzuckt es mich.

Plötzlich werde ich aufmerksamer. Mein Blick bleibt weiter nach oben gerichtet. Und siehe da. Hier ein liebevoll-buntes Rosettenfenster. Dort ein grimmig dreinschauender Wasserspeier an der Dachkante. Eine fröhlich diskutierende Gruppe junger Menschen mit herrlich frisch anmutenden orangenen Getränken auf einem Dachbalkon. Und weit oben flattert die Trikolore in einem Wind, den es über den Dächern offenbar doch gibt.

Mein Herz wird fröhlich. Der Geduldsfaden entspannt. Noch am Boden sehe ich in der Höhe eine andere Ebene dieser Stadt. Meist wohl unbeachtet von denen, die unten geschäftig ausschreiten. Aber von einer Leichtigkeit, die dann entsteht, wenn sie etwas über den Dingen steht. Und sei es auch nur wenige Meter über dem staubigen Pflaster einer sommerlichen Großstadt.
Manchmal geht es mir mit meinem Glauben ähnlich. Ich haste durch die Tage und frage mich erschöpft, wozu das Sprinten im Hamsterrad eigentlich gut sein soll. Ungeduldig wie ich bin, stehen mir plötzlich völlig unschuldige Menschen im Weg. Ich werde ungerecht, laut, mag mich selber nicht, komme nicht zur Ruhe. Kein Straßenende, keine Ruhe-Oase in Sicht.
Dann schenkt mir Gott einen Augenblick des Innehaltens, lenkt meinen Blick eine Etage höher. Öffnet mein Herz für einen kleinen Ewigkeitsmoment, einen Blitz von Schönheit, Gelassenheit. Ich spüre für eine kurze Zeitspanne den Hauch seines Geistes, in dem sich meine eigene Seelen-Trikolore befreit entfalten kann. „Aufatmen sollt ihr und frei sein.“ So hat Jörg Zink einst Matthäus 11,28 etwas unkonventionell, aber treffend übersetzt. Wir dürfen dieses göttliche Geschenk nicht nur in den gegenwärtig heißen Sommertagen getrost annehmen.