Kolumne Dezember 2023

Rote Schuhe und dröhnendes Schweigen

Dr. Philipp Hildmann

KZ Auschwitz-Birkenau. Das Symbol für den Holocaust schlechthin. Mit knapp 1.000 Delegierten der 13. Vollversammlung des Lutherischen Weltbunds stehe ich im September dieses Jahres vor dem bekannten Tor der Gedenkstätte. Arbeit macht frei. Blanker Hohn. 

Der bevorstehende Besuch treibt mich seit Wochen um. Professionell gehst du das an, hab’ ich mir vorgenommen. Man kennt das ja inzwischen. Die Zahlen. Geschichten. Bilder. Dachau. Klar wird das emotional. Aber mit etwas professionellem Abstand wird es gehen. Ging es auch. Bis zu den roten Schuhen. Kinderschuhe. Rot. Etwas abgetragen von langen Wegen. Ein wenig abseits des unübersehbar großen Berges an aufgehäuftem Schuhwerk. Der Zusammengetriebenen. Der Gequälten. Der Ermordeten. Da stehen sie. Die roten Schuhe. Klein. Unschuldig. Kein Hopsen. Kein Kinderlächeln. Nie mehr. Professionell ist vorbei. Mit diesem Bild. Schlagartig. Wenigstens bin ich nicht allein mit dem Schluchzer, der meinen Kehlkopf würgt. Der die Schuld der Väter heimsucht an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied. Das gilt nicht jenen Schuhen hinter der Scheibe. Weiß Gott nicht. Das gilt meinen roten Schuhen. Und denen meiner Kinder? Was für Schuld. Was für unermessliche Schuld. Herr, vergib. 

Draußen. Dämmerung über den Ruinen des Krematoriums. … dann steigt ihr als Rauch in die Luft. Kleine Gruppen. Gelungene Regie. Sie kanalisiert Emotionen wieder professionell in klare, kleine Gesten. Ein gemeinsames Kyrie, eleison. Herr, erbarme dich. Das Grauen steckt dennoch in der Seele. Schwarze Milch der Frühe. Wird noch lange darin stecken. … der Tod ist ein Meister aus Deutschland. Hält die Wunde offen. … dein goldenes Haar Margarete / dein aschenes Haar Sulamith. Im kalten Abendhauch geht der Atem freier. Reicht wieder für Paul Celans Todesfuge. Seinerzeit vorgelesen den Schlächtern am Beginn der Nürnberger Prozesse. Heute digital hergezaubert. Anachronistisch an diesem Ort. Das matt schimmernde Display. Die Verse leise vor mich hin gelesen beim einsamen Gang. Die Bahngleise entlang. Zurück zum Ausgang. Wir dürfen wieder durchs Tor.

Arbeit_macht_frei

Gespräche am Abend. Delegierte aus knapp 100 Ländern haben den Tag gemeinsam mit uns erlebt. Viele beeindruckt von der Professionalität der Ausstellung. Da ist sie wieder. Die Professionalität. In Auschwitz-Birkenau. Zivilisationsbruch? Menschheitsverbrechen? Ja, sicher. Aber wir haben auch Holodomor und Gulag. Armenien. Kambodscha. Ruanda. Die Shoah ist eure deutsche Bürde. Ja, aber. Will man sagen. Kommt ins Gespräch. Über Unsagbares. Wer Singularität behauptet, darf den Vergleich nicht scheuen. Am Ende bleibt das Singuläre. Für mich. Das in Auschwitz-Birkenau seinen schwarzen Kristallisationspunkt fand. Und wieder mahnt. 

Nach 7., nach 8. Oktober 2023 ist es wieder lauter geworden als zuvor. Das Gerücht über die Juden. Der Antisemitismus. Auf unseren Straßen. In unseren Parlamenten. Auschwitz ist nicht vom Himmel gefallen. Uns Delegierten ruft das der greise Marian Turski zu. Am Tag nach dem Gedenkstättenbesuch wieder in Krakau. Ein Überlebender. Einer, der es erfahren hat. Am eigenen Leib. Das Grauen. Es begann mit geringen Formen der Judenverfolgung, erinnert er. Es passierte; das heißt, es kann überall erneut passieren. Seine Worte nehme ich mit. Aus Polen nach Hause. Nach Deutschland. Heute. Hinein in das, was auf unseren Straßen passiert. In unseren Parlamenten. Zurück in das dröhnende Schweigen derer, die wieder nur zusehen.

Ihr
Dr. Philipp Hildmann

Autor/in

Dr. Philipp Hildmann

Bayerisches Bündnis für Toleranz