Es ist nur ein Mosaikstein im großen und bunten Gemälde des Nahen Ostens. Aber für mich doch ein Entscheidender. Wir stehen im Nationalmuseum in Damaskus: Herrlichste Skulpturen; Fragmente des vor zehn Jahren vom IS zerstörten Tempels von Palmyra; das monumentale Tor eines Umayyaden-Schlosses aus dem 8. Jahrhundert. Dann öffnet die Direktorin unvermittelt eine sonst verschlossene Türe:
Vor unseren staunenden Augen entfaltet sich im Halbdunkel die Synagoge von Dura aus dem Grenzgebiet zwischen Syrien und Irak mit Wandmalereien aus dem 3. Jh. n. Chr. Trotz des jüdischen Bilderverbots religiöser Darstellungen erblickt Jakob im Traum die Himmelsleiter; Moses steht am brennenden Dornbusch; der Prophet Elia obsiegt über die Baals-Priester und Mordechai stellt sich schützend vor sein jüdisches Volk.

Das sind auch unsere Geschichten. Meine Geschichten, die nicht nur meine Kindergottesdienste geprägt haben. Sie führen mir wieder klar vor Augen, wie tief verwurzelt unsere eigene Christentumsgeschichte im Judentum ist. Aber auch, wie eng uns der Dritte im Abrahamitischen Bund verwand ist. Viele unserer jüdisch-christlichen Erzählungen finden wir in ähnlicher Form auch im Koran und den muslimischen Überlieferungen. Bei aller zweifellos vorhandenen Differenz haben wir gerade in unseren Quellen doch mehr gemeinsam, als uns oft bewusst ist.
Die Schönheit und Nähe von Judentum, Christentum und Islam begegnet mir allerdings an einem Ort, der über 50 Jahre Diktatur und 13 Jahre Bürgerkrieg hinter sich hat und seit Dezember 2024 (mit zum Teil blutigster Hand) von islamistischen Kämpfern regiert wird. Wie geht es den inzwischen weniger als zwei Prozent Christen in diesem Land, in dem Saulus zum Paulus wurde? Wie geht es den vermutlich weniger als 50 Jüdinnen und Juden in Syrien heute? Meine Wahrnehmung aus zahlreichen Gesprächen mit Menschen vor Ort ist: Nicht gut. Der Druck ist enorm.
Der Richter aus Lessings berühmter „Ringparabel“ rät seinen drei Söhnen, nicht auf die äußere Form der drei identischen Ringe zu blicken. Sie sollten vielmehr darauf achten, welcher der drei Ringträger durch seinen Umgang mit den Nächsten am meisten „vor Gott und den Menschen angenehm“ werde. Dies sei der entscheidende Lackmustest für die Echtheit des einen, des wahren Ringes.
Wenn die Rückbesinnung auf ihre enge wechselseitige historische Verwandtschaft die drei abrahamitischen Religionen in der Gegenwart dazu anspornen könnte, noch stärker als bisher in diesen Wettbewerb des Guten, der wechselseitigen Wertschätzung und des menschenwürdigen Umgangs miteinander einzutreten, um die Einzigartigkeit des je eigenen Ringes zu beweisen, wäre so manches gewonnen. Die jüdische Synagoge in Damaskus hielte hierfür manche Anregung bereit.
Philipp Hildmann