Thiemes Zettel vom 07.11.2022
Von Bildern und Büchern
Apricale! Was für ein Ort! Die Häuser kühn an den steilen Berg geklebt, so kühn, dass eines von ihnen neulich einfach verloren ging. Zu weit hatte es sich im steilen Gelände vorgewagt, so dass es eines Morgens, als der Tag erwachte, einfach verschwunden war. Hinuntergefallen sozusagen. Abgestürzt. Nur die Mauer mit der Haustür war am Straßenrand kleben geblieben. Wollen wir hoffen, dass man sie gut gesichert hat, damit niemand versuchen konnte, durch die stehengebliebene Haustür das verschwundene Haus zu betreten. Und vor allem: Wollen wir hoffen, dass die Baufälligkeit rechtzeitig erkannt wurde und das Haus, als es sich auf den Weg ins Tal machte, bereits leergeräumt war.
Apricale in Ligurien – für mich ist ein „Klein-Siena“. Ich sehe den malerischen Dorfplatz, der kaum von Autos erreicht wird, eher von Vespa und Ape, und frage mich, wie ich bei diesem Anblick auf Siena komme. Eigentlich gibt es keinen plausiblen Grund, warum jemand bei diesem engen Rund, wo gerade einmal zwei Pferde im Kreis laufen könnten, an den großzügigen Platz in Siena denken sollte. An den Gebäuden jedenfalls kann’s nicht liegen. Mit ihnen lässt sich eine solche Verbindung kaum herstellen. Aber die Phantasie lässt sich keine Vorschriften machen. So nehme ich den Platz durch den Filter meiner individuellen Assoziationen wahr, und die sagen mir „Klein-Siena“. So etwas passiert offensichtlich nicht nur den Bildern, sondern manchmal auch den Plätzen (Auf die Bilder kommen wir gleich zurück). Hoch oben über dem Klein-Siena-Platz thront das Castello. Es ist ein Relikt aus dem 11. oder 12. Jahrhundert mit einem Turm, auf dessen spitzem Dach sie ein Fahrrad montiert haben: Frei stehend, Vorderrad himmelwärts. Indem es weder abrutscht noch umkippt, scheint es den Gesetzen der Physik doppelt Hohn zu sprechen. Kunst, von außen weithin sichtbar. Kunst auch innen, denn im Castello zeigen sie in jedem Jahr eine zwar im Umfang bescheidene, aber für den Besucher jedes Mal interessante Ausstellung.
Quelle: Von Alessandro Vecchi - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=18857402
(Nichts als) ein Bild?
Mit den Bildern drinnen ist es wie mit dem Platz draußen: Sie werden lebendig, sobald Wahrnehmung und Assoziationen des geneigten Betrachters sie wachkitzeln. Zwar gibt es bei jedem Bild Aspekte, die nicht so sehr vom subjektiven Blick des Betrachters abhängen, wie zum Beispiel Technik, Epoche oder Marktwert – bei letzterem jedoch ist das schon wieder kompliziert. Was (oder wer) bewirkt denn, dass ein Bild als wertvoll gilt? Ich jedenfalls huldige der gnadenlosen Subjektivität. Für mich bin ich allein das Maß aller Bilder. Ganz nahe bei Picasso, der den Kunstbegriff mit seiner bekannten Metapher vom Stein erklärte: Im Auge eines Betrachters, der ihn in der Hand hält und betrachtend dreht und wendet, kann dieser Stein zum Kunstwerk werden. Zurück auf den Boden geworfen, ist er nichts weiter mehr als der Stein, der er zuvor gewesen.
Ja, Picasso! Oben im Turm hatten sie bei unserem letzten Besuch ein paar Arbeiten von ihm, und dazu auch eine Video-Installation. Auf ihr konnte man zusehen, wie der Meister von unsichtbarer Hand Bilder entstehen ließ, eines nach dem anderen, wie im Zeitraffer. Das „entstehen“ ist wörtlich zu nehmen, denn der Betrachter wird Zeuge der schrittweisen Fertigstellung. So fing ich nach kurzer Zeit an, in den Bildern eine Symbolik zu sehen, die neben mir in diesem Moment vielleicht kein anderer sah: Hier wurden vordergründig zwar einfach nur Bilder gezeigt! Könnte aber „in Wirklichkeit“ nicht jedes von ihnen ein real gelebtes Leben repräsentieren?
Da gab es Bilder bzw. Leben, bei denen gleich zu Beginn einige kräftige Linien gesetzt waren, von denen das Bild bis zur Fertigstellung „nicht mehr losgekommen ist“, so meine Lesart. Bei anderen war es mir, als hätten sie sich immer wieder neu erfunden. In meine Sprache übersetzt war das so, als hätten sie nicht nur ein Leben gelebt, sondern nacheinander mehrere. So ein Leben möchte ich haben. Nein, nicht einfach haben! Von selber kommt das nicht! Sondern: So möchte ich mir mein eigenes Leben gestalten! rief es in mir.
Und noch einen weiteren Stromschlag versetzten mir diese Sequenzen. Was nämlich würde ich normalerweise tun, sobald ein Bild, an dem ich lange gemalt habe, endlich fertiggestellt ist: Ich würde einen Schritt zurücktreten und es in Ruhe auf mich wirken lassen. Allein schon, um zu sehen, ob ich es wirklich für fertig halten soll. Was aber tat der Meister mir an! In derselben Sekunde, da der letzte Pinselstrich gesetzt war, geht das Licht aus, das Bild verschwindet. Warum hat er das so arrangiert? Konnte es dafür überhaupt eine andere Deutung geben als die, die ich gerade gefunden hatte? „Aus dem blühenden Leben gerissen“?
Aus dem blühenden Leben. Ist das gut oder schlecht? Wenn es kann, greift das Denken auf bekannte Muster zurück, die sich abwandeln lassen: Soll man beim Beten essen? – Nein. Aber warum nicht beim Essen beten?! Übersetzt heißt das hier: Will ich aus dem blühenden Leben gerissen werden? – Nein. Aber zugleich ich wünsche mir, dass mein Leben bis zum letzten Tag bunt und möglichst interessant bleiben möge, wie Picassos Bild! Wohl wissend, dass es Leben gibt, denen am Ende über viele Jahre die Kraft fehlt, mehr zu tun, als das Bild zu betrachten, das vorzeiten fertiggemalt oder einfach halbfertig liegengelassen wurde. Oder nicht einmal das.
Unabhängig von der Wirkung auf mich als Einzelnem gehört das Bild zu den ältesten Kulturgütern der Menschheit, von Picasso und der Gegenwart zurück bis in die Antike und noch weiter, mindestens bis in die Höhlen der Steinzeit. Als Unikate waren Bilder und Plastiken noch bis vor kurzem allein für lokale und soziale Eliten zugänglich, denen sie ihre Botschaften über die Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg anvertraut hatten. Erst in jüngerer Zeit entfalten sie durch Ausstellungen und millionenfache Reproduktionen ihre Breitenwirkung. Der Kultur mag das wohl insgesamt eher guttun, auch wenn vielleicht ein paar Fragezeichen zurückbleiben.
(Nichts als) ein Buch?
Pieve di Teco! Was für ein Ort! Der Kern stammt aus dem 12. Oder 13. Jahrhundert: Eine schmale Straße, links und rechts gesäumt von schattigen Arkaden mit ihren Geschäften, Bars und Lokalen, darüber mehrstöckige Häuser und rechts und links aufstrebend die steilen Hänge der ligurischen Berge. Unter den Arkaden machen sie an jedem letzten Sonntag Flohmarkt.
Manchmal sitzt da ein alter Mann, umgeben von Schachteln mit noch viel älteren Büchern. Leicht kommen wir ins Gespräch und unterhalten uns. Zuerst über die lateinischen Bücher – sie zu verkaufen, ist er ja gekommen –, dann über Latein schlechthin und alles Mögliche, trinken einen Espresso, reden über den Preis für eines der Bücher, danach vielleicht wieder über Latein, … Der alte Mann weiß genau, was jedes Buch (eigentlich) kosten soll, aber reden kann man ja immer, und so fanden mit der Zeit ein paar seiner kleinen Schätze den Weg nach Starnberg. Was mag so ein Buch in den letzten 300 Jahren erlebt haben? Wie viele Besitzer nannten es „für immer“ ihr Eigentum, ganz so, als würde die Zeit mit ihnen enden? Wie viele Kriege hat es überstanden, wie oft musste es aus dem Feuer gerettet werden? Durch Hunger, Dürre, Hochwasser, Kälte, Hitze, immer ist es da und sagt: Ich bin Kultur, ich lebe – bewahre mich und gib mich weiter!
Wozu ich die alten Bücher „brauchen kann“? Was bedeutet es, ein Buch von Thomas von Aquin in der Hand zu haben, so alt, dass es den Abstand zwischen ihm und mir halbiert? Was macht es mit mir, ein Buch zu besitzen, an dessen Innerem sich vor Jahrhunderten schon die Würmer sattgefressen haben? Das Buch als Datenträger? – Um den Inhalt zu lesen, brauche ich nicht das alte Papier. Und dennoch ist es (mir) wichtig? Das Buch als Gegenstand? – als Dokument der Zeit(en), könnte man sagen.
Umbrüche. An der Schwelle zur Neuzeit kam es zum Übergang vom geschriebenen Buch zum gedruckten. Oder war es umgekehrt: Markierte nicht gerade der Buchdruck den Beginn der Neuzeit? Schnell wurden die früheren Handschriften für den Alltag bedeutungslos. Heute sorgt die Digitalisierung für einen nicht weniger einschneidenden Umbruch als damals der Buchdruck. Gigantische Projekte sind angelaufen, um ganze Bibliotheken mit ihren Millionen von Bänden zu digitalisieren, und der Fundus an online lesbaren Büchern wird von Tag zu Tag größer. Auch ich profitiere gelegentlich davon. Könnte so den gedruckten Büchern ein ähnliches Schicksal bevorstehen wie einst den Handschriften? Einerseits schon.
Aber ist denn ein Buch immer nur „Content“? Ich würde da unterscheiden. Der größte Teil dessen, was ich zu lesen bekomme, ist morgen oder übermorgen bedeutungslos. Ob ich es auf Papier lese oder digital, ist eine Frage der Prägung. Die jüngere Generation ist mit dem Display aufgewachsen und braucht nichts anderes mehr. Der Wald dankt es ihr. Für manche ist ein Bibliotheksschrank nichts weiter als eine „Büchertapete“. Und wenn Wohnungsmieten unerschwinglich werden und jemand zudem noch berufsbedingt mobil sein muss, sind Bücher in der Tat das vorletzte, was er brauchen kann (das allerletzte wäre ein Konzertflügel). Mit anderen Worten: Der Lebensraum für Bücher wird kleiner. Vom Aussterben bedroht sehe ich sie trotzdem nicht.
Für mich sind meine Bücher Elemente einer winzigen, privaten Bibliothek, die allmählich zum Abbild meiner Biografie geworden ist. Zugleich inspiriert sie mich immer wieder neu, sobald ich in ihr „lese“. Zwischen den Büchern ist nämlich ein feines Netz gespannt, dessen Fäden allein ich sehen kann, weil ich der bin, der sie gespannt hat. Unsichtbare Querverbindungen, die nur mir gehören und nur für mich etwas bedeuten. Durch die Körperlichkeit der Bücher, durch ihre Standorte, ihre Nachbarschaft zu den anderen Büchern werden die Bezüge dargestellt. „Nach mir“ werden die Fäden erloschen sein, und was zuvor meine Bibliothek gewesen war, wird ein strukturloser Haufen von Büchern sein. Das haben der Stein von Picasso, der im Auge des Betrachters zum Kunstwerk wird, und nur dort, und meine kleine Bibliothek gemeinsam. Freilich, und darin liegt der Unterschied, haben viele dieser Bücher, ähnlich den alten Bildern, ihren Wert nicht nur im Auge des Betrachters, der sie als Teil seines persönlichen Kosmos sieht, sondern von ihm unabhängig als materialisierte Kultur.
Auch bei den Büchern spielten Unikate lange Zeit die ausschlaggebende Rolle. Die Bibliothek von Alexandria war legendär, und noch in der Renaissance war der Besitz von 100 oder 200 Büchern ein Zeichen von fürstlichem Luxus. Heute freilich sind die alten Handschriften nur noch für Spezialisten von Interesse. Früher und radikaler als bei den Bildern trat die Breitenwirkung in den Vordergrund – gut für die Bücher und wiederum gut für die Kultur, sicherlich mit weniger Fragezeichen als bei den Bildern.
Bücher und Bilder: Die großen Bewahrer
Kultur denkt nicht in Generationen. Gemessen an den Perioden, in denen sie lebt und sich entwickelt, ist unser Leben kurz. Wie aber überlebt sie alle Höhen und vor allem Tiefen des Menschengeschlechts? – An dieser Stelle schließt sich der Kreis zu mir als Einzelnem. Denn jede*r kann zu ihrem Erhalt beitragen, indem sie oder er ein kleines Stück Kultur bewahrt und weitergibt, ideell oder materiell. Ich stelle mir jedes menschliche Leben im Hinblick auf die Kultur als ein auf den Kopf gestelltes U vor. Am Anfang wird, wenn es das Schicksal gut meint, gelernt. Nur Gelerntes kann weitergetragen werden. Danach folgt, kulturell gesehen, die Blütezeit, der nach oben gerichtete Bogen des umgekehrten U, und am Ende kommt es zum unvermeidlichen „Rückbau“. Wenn nun genügend dieser Bögen dicht nebeneinander stehen, kann es sich die Kultur auf ihnen wie auf einer stabilen Unterlage bequem machen, obwohl jeden Tag Individuen hinzukommen und andere ihren Abschied nehmen. Sobald aber dieses Kontinuum unterbrochen wird, verschwindet Kulturwissen, manchmal unwiederbringlich. Wie in der Antike musiziert wurde, werden wir nie mehr wirklich erfahren. Bücher und Bilder können dazu beitragen, Lücken zu überbrücken. Lücken, die gerissen wurden durch Kriege, Barbarei, blanke Not, pure Dummheit – viele Ursachen gab und gibt es, viele Gefahren lauern dem kulturellen Erbe auf. Die Renaissance war eine Zeit der immer neuen Entdeckungen. Ein antiker Text nach dem anderen kam nach Jahrhunderten neu zum Vorschein, überliefert nicht von Mensch zu Mensch, sondern allein durch die Schrift, von Mensch zu Schrift zu Mensch. Und weiterhin bleiben viele Texte verschollen, viele davon wahrscheinlich für immer. Aber wer weiß! Immer noch schlummern viele Texte in den Bibliotheken, entweder gänzlich unbearbeitet oder unentdeckt, weil sie später mit anderen Texten überschrieben wurden wie eine gelöschte Festplatte, deren ursprünglicher Inhalt sich nur mit kriminalistisch-technischer Akribie rekonstruieren lässt. Bis dereinst auch die letzten bearbeitet und zugänglich gemacht sein werden, können wir wohl immer wieder einmal Details unserer Geschichtsbücher ergänzen oder auch neu schreiben.
Ich als Kontinuum
Die bedeutendsten Bauwerke kann die Menschheit nur gemeinsam bewahren, genau wie das Ökosystem. Bilder und Bücher aufzubewahren und zu erhalten ist wie der Gartenteich, der zwar allein nichts rettet, aber doch Teil einer Mut machenden Bewegung ist. Zukunft setzt voraus, dass ich an sie glauben will – wissen können wir sowieso nichts, und konnten es noch nie. Und darum hänge ich an den alten Büchern und betrachte alte Bilder, unabhängig von ihrem aktuellen Wert auf dem Kunstmarkt, der sie manchmal zum Asset im Portfolio von Superreichen degradiert. Zur Zukunft gehören Demut und das Bemühen, Überkommenes zu erhalten, um es an die Kinder und Enkel weiterzugeben.
Post scriptum: Während ich letzte Hand an diesen Text lege, begegnet mir Hörfunk (Bayern 2 am 5.11.2022) ein Beitrag über den Denkmalschutz und die prekäre Situation unserer Baudenkmäler. Es war ein Fehler, so muss ich mir eingestehen, neben den Büchern nicht auch von den Häusern gesprochen zu haben – beim nächsten Mal wird es nachgeholt…
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