Thiemes Zettel vom 01.08.2022

Dr. Christian Thieme

Größe

Glücklich, wer sich noch nie in einer wirklichen Notlage befand, nie auf spontane Hilfe angewiesen und nie von der Größe eines Anderen abhängig war. Ist das tatsächlich ein besonderes Glück, oder einfach nur kein Pech? Bei der Gesundheit ist es ja genauso: Erst, wenn sie schwindet, zeigt sich ihr Wert. Vorher war sie einfach da. Kein Pech ist eine Art von Glück, die ich im Normalfall nicht die Bohne als wirkliches Glück wahrnehme. Kein Pech zu haben, ist mein Gewohnheitsrecht. Das gesicherte Umfeld ist Normalität und gehört zu meinem sozialen und biografischen Besitzstand. Über das Normale denken wir wenig nach.

Ach, wenn es doch wenigstens nur die Gedankenlosigkeit wäre! Manchmal befürchte ich, dass mich die gesicherten Verhältnisse, in denen ich leben darf, nicht nur nicht glücklich machen, oder wenigstens zufrieden, sondern eher behäbig, vielleicht sogar hochnäsig? Kann ich mir denn im Umgang mit meinem Glück über den Weg trauen? Jedenfalls brauche ich mir überhaupt absolut gar nichts darauf einzubilden, dass ich in eine Zeit, in eine Weltregion und dort obendrein noch in eine soziale Schicht hineingeboren wurde, wo ich noch nie um so elementare Dinge wie Unterkunft oder Essen betteln musste. Bisher.

In normalen Zeiten zwingt mich nichts und niemand dazu, über dieses Glück allzu sehr nachzudenken. Ein paar Rituale genügen, um mich immer wieder ruhig zu stellen, etwa eine „großzügige“ Spende vor Weihnachten. Wobei, das lehrt die Erfahrung immer wieder und überall, die Großzügigkeit bei denen am größten ist, die selber am wenigsten haben, wenn man die konkreten Taten an den jeweiligen Möglichkeiten misst. Ungemütlich wird die Sache, wenn die gewohnte Besitzstands-Ruhe so unvermittelt erschüttert wird, wie wir es gerade zweimal innerhalb von nur wenigen Jahren erleben mussten. Die Flüchtlinge sollen doch weg bleiben, sollen uns hier in Ruhe lassen – viele dachten so und denken es weiterhin – auch, wenn es nicht alle so freimütig sagen würden. Gehöre ich tief innen auch dazu? Je stärker ich mich von der Vorstellung leiten lasse, dass meine eigene, komfortable Position ganz oder teilweise auf eigene „Leistung“ zurückzuführen sei, desto leichter fällt es mir, Fremde von mir und meinen „Errungenschaften“ fernhalten zu wollen. Rassismus, Nationalismus und manchmal auch bestimmte religiöse Konzepte tuen da – allein oder in unheilvoller Allianz – ihr Übriges. Nein, diese Kritik mag andere treffen, aber doch nicht mich: Ich danke dir, lieber Gott, dass ich nicht bei Hartherzigen dabei bin, sondern bei den Guten! Hartherzig, das bin doch nicht ich! Da wüsste ich ganz andere!!!

Bin ich es wirklich nicht? Schaue ich denn als gut situierter Europäer, wenn ich mir alle Erdenmenschen in einer Reihe aufgestellt denke, wirklich und in echter Betroffenheit auf die Unzahl derer hinter mir, oder sind das Lippenbekenntnisse und ich schiele insgeheim vielleicht doch mehr auf die Wenigen, die neben oder vor mir stehen? Die Rück-Sicht, also die Sicht nach hinten, hilft mir, mich immer aufs Neue zu erden. Sie erinnert mich an meine ethische Verpflichtung für die, die im Leben weniger Glück haben. Ein Selbstläufer ist die Sache mit der Erdung freilich nicht, auch dann nicht, wenn ich schön artig jede Woche einmal nach hinten schaue. Letzten Endes könnte der Blick nach hinten/unten sogar das Gegenteil bewirken, wenn er nämlich meinen Hochmut stärkt, anstelle der Demut. Und wenn schon nicht hochmütig, dann gleichgültig. So ist das Leben. Der menschliche Verstand passt sich schnell an. Und jederzeit ist er in der Lage, eine Situation so lange umzudeuten, bis er genügend Gründe dafür gefunden hat, sich unbemerkt aus den eigenen Verpflichtungen wegzustehlen – solange nur das Herz es ihm erlaubt, indem es wegschaut und ihn bei der Alibi-Beschaffung nicht behindert. Deshalb ist es notwendig, nicht nur den Verstand zu trainieren, sondern in gleicher Weise das Herz.

Bild zeigt ein Roulette Spiel in einer Spielbank

Erinnern als Herzens-Training!

In meinem Leben gibt es eine Frau, die mir von Kindesbeinen an als Inbegriff der Größe erschien, obwohl ich ihr nie begegnet bin. Ich weiß nicht einmal, ob sie am Tag meiner Geburt noch am Leben war, und auch nicht, wo genau sie ihr Leben gelebt hat. Nur, dass es irgendwo auf der Stecke zwischen Dresden und Starnberg gewesen ist. Strecke sagt wenig: Nennen wir es „Fußweg“, denn genau das war es damals.

Ich kann die Geschichte von ihr und den anderen Wohltätern nicht wirklich erzählen, weil ich sie nicht selbst erleben musste. Meine Mutter, damals eigentlich schon seit Jahren in Kempfenhausen am Starnberger See. Ihre Eltern, meine Großeltern, in Dresden, im Bombenhagel alles verloren, alles zerstört. Bald nach Kriegsende hat sie sie hergeholt. Zu dritt waren sie unterwegs mit einem Fahrrad, auf dem sie ein wenig von dem schoben und zogen, was den Eltern lieb und teuer gewesen war. So viel eben noch da war und auf dem Fahrrad Platz fand. Zerstörtes Land, soweit das Auge reichte. Kaputte Häuser, und auch die Brücke über die Schlucht war in der Mitte entzwei und ohne Lebensgefahr nicht mehr passierbar. Mit einem Brett, in schwindelnder Höhe über den Abgrund gelegt, hatten die Leute aus dem Dorf sie begehbar gemacht. Begehbar? – an der Lücke hielten sie Wache, nicht nur den Aufwand missachtend, sondern auch die dauernde Gefahr fürs eigene Leben, um Tag für Tag verängstigten, fremden, oftmals schwachen Menschen über das Brett zu helfen, und sogar dem Fahrrad. Stattdessen hätten sie sich wohl auch um die Schäden am eigenen Hof kümmern können, wenn sie dem Verstand gefolgt wären, statt dem Herzen.

Weiter, immer weiter. Immer wieder Kopftuch aufsetzen, möglichst alt erscheinen, um sich vor Vergewaltigung zu schützen. Eine Frau ist gestorben, so haben sie sie hergenommen – meine Kinderphantasie hatte nicht ausgereicht, das Grauen zu entschlüsseln. Es war auch nicht für meine Ohren bestimmt gewesen.

Eines Abends ein Bauernhof oder Gut – ich kann es nicht sagen. Bis zum Abend füllt sich der Hof: Eine Rotte armseliger, nasser, zerlumpter und hungriger Gestalten hofft auf einen Schlafplatz und vielleicht sogar etwas Essen. Menschen zwar, aber in ihrer Not immer weniger Individuum und immer mehr anonyme, gesichtslose Masse. Wie zuvor an der Brücke und überall. Ja, Masse, und das vermutlich jeden Abend. Vielleicht hatte sich der Ort unter den Fliehenden herumgesprochen? In der erzählten Erinnerung sehe ich einen langen Holztisch, der vielleicht für Gutshof spricht? Rund um den Tisch die grauen Gestalten, schweigend, vielleicht stumpf, und wortlos auch die Bäuerin, während sie mit einem großen Topf um den Tisch geht und jedem Menschen ein Messer voll Schmalz auf die Tischkante streicht. In meiner 1950-er-Jahre-heile-Welt-Kinderbuchphantasie ist sie mollig mit roten Backen und trägt eine karierte Schürze, Inbegriff mütterlicher Geborgenheit. In echt war sie wahrscheinlich abgehärmt und genauso vom Krieg gezeichnet wie ihre durchreisenden Gäste. Dennoch hat sie es getan. Schmalz! Mitten im Elend ein Stück Luxus! Man muss vielleicht selbst in der Situation gewesen sein, um das Gefühl authentisch nachzuerleben. Schmalz. Ersatzweise vielleicht Heinrich Böll herausholen, Das Brot der frühen Jahre….

Einer dieser grauen, verängstigten, vom Schicksal erniedrigten Menschen war meine Mutter. Von ihr habe ich diese Fragmente aufgeschnappt. Viele Worte hatte sie nicht dafür, Grauen und Angst erzählen sich so schwer. Nur die Dankbarkeit ließ sie mich spüren, den Rest musste ich mir dazudenken. Oma und Opa hatten keine Zeit mehr, mir ihre Geschichten zu erzählen. Den aufkommenden Wohlstand konnten sie höchstens von Ferne noch erahnen. Wenn überhaupt.

Auf dem Weg nach Dresden sucht mein Blick noch immer die Lücke in der Brücke, unwillkürlich. Und dann sehe ich den Tisch, die Frau und das Schmalz. Kein Teil meines gelebten Lebens, und doch ein Stück von mir.

Die Wunden von damals sind nicht mehr. Und heute? Wäre ich der mit dem Schmalz? Würde ich an der Brücke stehen?

 

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