Thiemes Zettel vom 16.04.2021

Dr. Christian Thieme

Demenz
– zwei Kolumnen im Doppelpack

Ab einem bestimmten Lebensalter haben wahrscheinlich die meisten Menschen eigene Erfahrungen mit "Demenz" gemacht. Das meine ich nicht in dem Sinn, dass sie alle von Demenz betroffen wären. Es geht um Erlebnisse und Ereignisse im Familienkreis, um Schilderungen von Freunden und nicht zuletzt auch um schockierende, zufällige Beobachtungen in Heimen, Krankenhäusern oder auch im Fernsehen.

Möglicherweise haben Sie sich soeben etwas wundern müssen. Warum habe ich bei Demenz die Anführungszeichen benutzt? Glaube ich etwa, Demenz sei keine Realität, so wie andere Corona für ein Hirngespinst halten? – Der Grund ist natürlich ein anderer. Demenz IST Realität, und denen, die als Angehörige oder Pflegende mit schwer an Demenz erkrankten Menschen zu tun haben, muss das keiner erklären wollen.

Demenz ist aber auch ein Stempel. Mehr als einmal habe ich es erlebt, wie betagte Menschen, bei denen altersbedingt nicht mehr alle Dinge so schnell und zuverlässig funktionieren wie früher, bei denen sich vielleicht ab und zu Dinge, die "unsereins" im Traum erledigt, während der Tagesstunden bemerkbar machen, die aber ansonsten am Alltag teilnehmen und wunderbare Gesprächspartner sind – wie also solche Menschen mit einem Stempel belegt werden, der da heißt "Demenz". Und ab diesem Moment müssen sie täglich um die Qualität des Umgangs kämpfen, der immer von einem latenten "er/sie ist ja dement" überschattet wird.

So scheint es mir, wenn ich von außen darauf schaue, als wären zwei Begriffe von Demenz im Umlauf, die ein ganzes Stück weit auseinanderliegen: Die schwere, das Leben aller Beteiligten verändernde Krankheit und daneben das manchmal leichtfertig, ja zu leichtfertig verhängte Attribut.

Diesem Gedanken folgend entstanden für die beiden Sichten zwei Kolumnen. Nun steht dahinter aber dennoch ein Kontinuum, also ein durchgehendes Band von zunehmenden Schweregraden der Krankheit. Wenn ich mich auf die Seite des Abstempelns stelle, blicke ich von dort bis ungefähr zur Mitte des Spektrums, also von den minimalen Ausfällen bis zu mittelschweren Erscheinungsbildern. Und von der anderen Seite her ist es entsprechend, wobei die beiden Blickrichtungen sich zwangsläufig überlappen. Es ist nicht möglich, die Betrachtung immer exakt in der Mitte zu stoppen. Das macht sich beim Schreiben bemerkbar, und wahrscheinlich auch beim Lesen.

Alte Frau leidet an Demenz

Demenz: Eine Krankheit wie ein Hammer

Nicht allein daran muss man denken, dass das Leben jeden Tag kürzer wird und ein ständig kleinerer Teil von ihm übrigbleibt, sondern man sollte sich auch dessen bewusst sein, dass es keineswegs sicher ist, wenn man länger leben sollte, ob auch die geistige Kraft bleiben wird, die für das Verständnis der Vorgänge dieser Welt und für die Denkarbeit erforderlich ist, die auf die Erforschung der göttlichen und menschlichen Grundfragen zielt. Wenn man nämlich anfängt, albern zu reden, wird sich das Atmen, die Ernährung, die Wahrnehmung, das Streben und Verlangen und anderes dieser Art nicht abschwächen. Doch über sich selbst zu verfügen, seine einzelnen Pflichten sorgfältig auseinanderzuhalten, die Phänomene zu unterscheiden (…) – alle diese Fähigkeiten nehmen deutlich ab. Man muss sich also beeilen, nicht nur weil man täglich dem Tod näherkommt, sondern auch weil die Fähigkeit zum Verstehen und Verarbeiten der Vorgänge in der Welt früher aufhört, als man denkt (*).

(*) Marc Aurel, Wege zu sich selbst, Hrsg. Und Übersetzer Rainer Nickel, Artemis & Winkler, 2001. Zitiert habe ich die erste Nummer im Dritten Buch – so ist die Stelle auch in jeder anderen ungekürzten Ausgabe auffindbar.

Dement, das sind die anderen!

Dement werden, die unvorstellbare Perspektive!
"ICH werde dement sein"?
Geht nicht. Der Satz prallt ab. Spurlos gleitet er über die schützende Folie, in die sich mein Denken einhüllt.
"Ich werde wahrscheinlich dement sein"/"ich werde vielleicht dement sein"/"ich könnte dement werden" – geht alles nicht.

Na, gut, hier ein letzter Versuch!
"Es könnte ja doch sein, dass ich eventuell, irgendwann später einmal, im hohen Alter, gewisse Anzeichen von Demenz entwickeln könnte" – ok, so könnte es gehen.

Marc Aurel, der Autor des Zitats, war klar in seiner Lebensführung und kompromisslos im Umgang mit sich selbst. Für ihn gab es kein solches Verdrängen. Immer wieder konfrontiert er sich selbst mit unbequemen Themen. Mit den eingangs zitierten Sätzen legt er den Finger in eine Wunde, die bis heute in unserem Denken klafft.

Hätten wir ein klareres Bewusstsein davon, dass wir, die heute Gesunden, nichts anderes sind als die Dementen von morgen, würden wir denn dann mit den aktuell Betroffenen anders umgehen? Ich muss, während ich diese Zeilen niederschreibe, daran denken, wie in einem südbayerischen Heim möglicherweise dutzende Menschen leiden und etliche von ihnen vermeidbar sterben mussten – es gilt die Unschuldsvermutung –, weil sich anscheinend keiner der direkt beteiligten Menschen für die Schutzbefohlenen verantwortlich fühlt(e), und weil sich die Mühle der staatlichen Fürsorge und Kontrolle, die subsidiär dort gebraucht wird, wo sich die Verantwortlichkeit der direkt Beteiligten verkrümelt hat, so unendlich träge nur bewegt. In welcher Welt lebe ich eigentlich? Nein – welche Welt ist das eigentlich, von der ich ein Teil bin?

Für meinen Umgang mit mir und meiner eigenen Lebens- und Schaffenszeit ist Marc Aurel mir ein Vorbild. Für den Umgang mit der Demenz anderer ist er es nicht. Denn Empathie darf man bei ihm nicht erwarten, und Nächstenliebe ebenfalls keine. Anstand ja! Toleranz ja! – aber nicht mehr.

Die Auslassung im Zitat ist übrigens nicht redaktionell motiviert. Bewusst weggelassen habe ich Marc Aurels Gedanken, dass der geeignete Moment verpasst werden könnte, um sich für den Suizid zu entscheiden. Ich will diese Facette seines Denkens nicht gänzlich verschweigen, darum berichte ich sie hier, aber es soll nicht der Eindruck entstehen, als sähe ich in ihr etwas Vorbildhaftes.

Philosophie – manchmal hilft sie ja. Hier auch?

Viele Blumen wachsen im Garten der Philosophie, zarte und knallige, freundliche und manchmal auch giftige, gerade zum Umgang mit Schwachen. Ich werde mich jetzt an den Mainstream halten, und der hat es mehr mit dem Verstand als mit dem Herzen: Sapere aude! höre ich es da rufen, habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen! Sapere aude! Mit diesen zwei Worten hat Kant den Beginn der Aufklärung proklamiert. Linkshirnig muss die Welt sein, rational und gesteuert vom unbestechlichen Verstand. Auch bei der Begründung des kategorischen Imperativs, kurz KI, der als Magna Charta ethischen Verhaltens gesehen wird, hat Kant darauf geachtet, dass sich in die Kaskade seiner Rationalität an keiner Stelle etwas "artfremdes", wie zum Beispiel eine nicht vom Verstand begründete Nächstenliebe, einschleichen möge. Wenn es um den Umgang mit den Schwachen und ganz Schwachen geht, würde ich daher woanders nachlesen: Jesus bleibt in diesem Segment auch nach 2000 Jahren Marktführer. Man kann das religiös motivieren, so wie die meisten es tun, aber man muss das nicht einmal. Selbst ohne die religiöse Fundierung scheint mir das Konzept einer altruistisch liebenden Zuwendung ohne sinnvolle Alternative, weil es offensichtlich weiter reicht als der kategorische Imperativ Kants. Wenn ich es in einem Satz begründen müsste: Der KI stellt mir meinen dementen Mitmenschen als Objekt dar, dem ich ein bestimmtes Verhalten entgegenzubringen habe (in der Philosophie Kants geschieht das "aus Pflicht"!), und nicht als Subjekt mit eigenem Wert, auch wenn Kant selbst da wahrscheinlich widerspräche. Man sollte aber, so ist meine Überzeugung, eine philosophische Botschaft (auch) danach beurteilen, was sie bei Menschen auslöst, die sie ernstnehmen, ohne in die Tiefe ihrer Exegese eindringen zu können. Das gilt besonders, wenn es eine Philosophie zu solch großer Verbreitung und Popularität gebracht hat und sie sich ihre Anhänger nicht immer aussuchen kann.

So leben wir als Erben Kants in einem fortschrittlichen, aufgeklärten rationalen Zeitalter, ohne dass wir uns wirklich Rechenschaft geben, wo überall die Schattenseiten dieser aufgeklärten Rationalität liegen.

Und die Politik?

Nächstenliebe ist keine politische Kategorie. Sozialpolitische Konzepte stellen lieber das Recht des Hilfsbedürftigen heraus, als an die Bereitschaft und Liebe der Starken zu appellieren – wohl aus bitterer Erfahrung, denn mit der freiwilligen Bereitschaft gerade der ganz Starken ist im wahrsten Sinne des Wortes kein Staat zu machen. Diese Erfahrung betrübt mich, und dem sozialpolitischen Begriff "soziale Gerechtigkeit" begegne ich nicht ganz ohne emotionale Distanz, weil er Ausdruck einer zwangsweisen Kompensation der weithin fehlenden Hilfsbereitschaft ist. Aber was hilft‘s: Realpolitisch gesehen können die von Demenz Betroffenen und ihre Angehörigen kaum genug rechtlichen Rückenwind bekommen, denn von der spärlichen Nächstenliebe allein könnten sie nicht existieren. Solange Vorfälle wie eben jetzt in jenem Heim möglich sind, ist der politische Handlungsbedarf immer noch uferlos.

Für mich ist es ein betrübliches Dilemma. Wenn die Ansprüche der Schwachen an die Allgemeinheit haarklein kodifiziert sind, bleibt kaum Spielraum für freiwillige Hilfe, emotional nicht und oft auch technisch nicht. Die pedantische Kodifizierung der "sozialen Gerechtigkeit" schützt zwar die Schutzbedürftigen, aber um den Preis, dass sie zugleich die Starken entlastet. Wenn nämlich meine soziale Verpflichtung über die Steuerschuld, die zu minimieren ich alle Kreativität einsetze, abgegolten ist, was soll ich mir dann darüber hinaus denn noch groß Gedanken machen? Vielfach könnte ich ja gar nicht, wie der folgende Gedankenversuch belegt: Angenommen, ich würde dem Heim monatlich einen Betrag spenden, um die Betreuung meines Angehörigen zu verbessern, was würde das Heim damit anstellen? Vermutlich so ähnlich wie gerade der Daimler-Vorstand, der die Entlastung aufgrund des staatlichen Kurzarbeitergelds nahtlos an die Aktionäre durchreicht. Verschärft wird das Problem durch das eherne politische Gesetz, dass am Ende kein Budget jemals so bemessen wird, wie es eigentlich erforderlich wäre, auch im Bereich der Sozialkassen nicht. Mit anderen Worten: die Lösungen der Politik sind unzureichend und verstopfen zugleich die Kanäle für private Hilfe.

Eine gute Idee für einen politischen Ausweg aus dem Dilemma habe ich allerdings auch nicht.

Pflege als der Kitt dazwischen

Man kennt es vom Bau. Silikon ist gut, um Fugen zu verschließen, aber wenn die Fuge weit genug ist, reißt das beste Silikon. Idealistische Pflegende sind das Silikon im System. Ordentliche Arbeitsbedingungen und fairer Lohn sind wichtig für gute, erfüllende Arbeit, aber nicht nur sie. Um demente Menschen zu betreuen, um der täglichen Herausforderung gewachsen zu bleiben, braucht es Liebe zu den Menschen und viel Idealismus. Liebe und Idealismus wiederum machen erpressbar – ich kann doch die mir Anvertrauten nicht im Stich lassen. An Corona lässt sich dies gerade trefflich studieren. Viele ausgebrannte Teams denken daran, dem Beruf wegen fehlender Unterstützung für immer den Rücken zu kehren – nach der Pandemie. Idealismus belohnt die Idealisten. Wenn sich aber die Politik darauf verlässt, statt wirksam zu helfen, ist das zynisch. Wobei Politik so viel oder wenig für die Pflegenden und damit auch für die von ihnen Gepflegten tut, wie das Staatsvolk es verlangt. Und wiederum: Ein Teil des Staatsvolks bin ich selbst.

Zwischen allen Mühlsteinen: das Leiden der Angehörigen!

Wenig Rückhalt von einer auf Rationalität gepolten Philosophie und dem von ihr geprägten gesellschaftlichen Klima, schwindender Spielraum der Kirchen, die schwer mit der Erosion ihrer Basis zu kämpfen haben, limitierte Bereitschaft der Politik, wirksam Abhilfe zu schaffen: So sieht das Umfeld aus. Wobei aber mehr Mittel für die Pflege und Betreuung ohnehin nur materielle Not, aber kaum das persönliche Leid der betroffenen Familien kompensieren können.

Was könnte ich meinen Angehörigen noch tröstendes sagen, wenn ich dement wäre: Nichts mehr. Was würde/werde ich empfinden, wenn ich ihr Leiden sehe: Ich weiß es nicht, keiner kann es von außen sagen, und ich selbst kann mich dann nicht mehr verständlich machen.

Marc Aurel liefert jedoch mit seinem Hinweis auf die zwei Grenzpunkte, Tod und vorher Demenz, einen Ansatz zur Linderung! Für den Tod treffe ich Vorkehrungen: Zwar kann ich das Sterben nicht verhindern, aber mit einer Verfügung kann ich es regulieren, indem ich im Testament die Dinge nach mir bestimme, jedenfalls manche. Warum also nicht auch ein "Testament" für die Zeit, ab der ich in den Dämmer einer Demenz hinübergleite? Nicht um des Geldes oder materieller Dinge willen. Sondern zum Trost der Angehörigen. Gestaltet zum Beispiel als Brief, den sie jedes Mal sehen, wenn sie mit mir zusammen sind, weil er in meinem Zimmer an der Wand hängt:

Ihr meine Lieben …., wenn ihr diesen Brief lesen werdet, werde ich nicht mehr so sein, wie ihr mich kanntet.
Ihr werdet mitangesehen haben, wie ich mich in meinem Wesen langsam oder rapide verändert habe, wie ich vergesslich wurde, wie ich altbekannte Zusammenhänge verloren habe. Vielleicht kann ich nicht mehr verstehen, dass das, was ihr für mich veranlasst, zu meinem Besten ist. Vielleicht werde ich deshalb zornig sein. Zornig, dass ich trinken soll, zornig, dass ich mich bewegen muss, zornig auf alles. Das wird es euch schwer machen, mich immer wieder aufzumuntern und mir bei diesen alltäglichen Dingen täglich aufs Neue zuzureden.
Und irgendwann werde ich die lieben Menschen um mich herum nicht mehr erkennen, zuletzt vielleicht auch euch nicht mehr, meine engsten Angehörigen.
Und nicht nur das.
Ich werde euch wehtun, indem ich euch schlimme Dinge unterstelle und eure Liebe nicht erwidere oder sie sogar mit bösen, hässlichen Worten vergelte. Schlimmeres kann ich euch kaum antun, ich, der ich immer euer … gewesen bin!
Warum muss das sein?
Niemand kann vorher sagen, was die Krankheit mit mir anstellen wird. Ihr müsst aber wissen, dass das, was ich sagen werde, nicht etwas ist, was ich insgeheim schon immer dachte. Mein Gehirn wird Worte finden, deren Herkunft ich nicht kenne. Das macht mich heute, da ich es mir vorstelle, so traurig wie dereinst euch.
Ich kann euch dafür nicht um Verzeihung bitten, denn mich trifft daran keine Schuld. Aber ich kann euch um etwas anderes bitten.
Bitte denkt, wenn wir zusammen sind, an die guten Dinge, die wir zusammen erlebt haben. Denkt daran, wie wir damals im Jahr ….
Und wie ihr damals ….
(usw)

Nun, das mit dem testamentarischen Brief ist vielleicht doch keine so praktische Idee, denn dement, das sind ja die bekanntlich anderen, niemals ich – ich werde es daher wohl versäumen, diesen Brief rechtzeitig zu schreiben, weil ich nicht glauben werde, dass ich selbst dereinst betroffen sein kann.

Aber meine Angehörigen können es tun. Sie können ihn später, wenn es mit mir soweit kommen sollte, in meinem Namen schreiben und ihn dann aufhängen. Sie werden dann wissen, dass sie es in meinem Sinne getan haben. Und damit darf ich das Thema jetzt, da es mir gut geht, weiter verdrängen.

Alter Mann leidet an Demenz

Demenz: Ein Wort wie ein Hammer

Schwarz oder weiß, richtig oder falsch, gesund oder krank. Manchmal will Sprache präzise sein – selbst dort, wo das Leben überhaupt nicht präzise ist. Jemand ist willensstark, weil er sich um keinen Preis von einer schwierigen, aber objektiv lösbaren Aufgabe abbringen lässt. Jemand ist starrsinnig, weil er unbeirrt an einem objektiv unsinnigen Ziel festhält. Objektiv. Was, bitte, ist das, dieses "objektiv"? Vier Elefanten in einen Volkswagen zu bringen, ist objektiv unmöglich, auch wenn der Kinderscherz sagt, es sei ganz einfach (zwei vorn und zwei hinten). Die tausend Meter in drei Minuten zu laufen, ist objektiv möglich. Aber auch für mich? Wer, bitte, entscheidet, was "objektiv" ist?

Die Sprache ist an dieser Stelle scharf wie eine Rasierklinge. Sie will, dass wir uns entscheiden, ohne Wenn und Aber. Wer die tausend Meter als Neunzigjähriger unter drei Minuten laufen will, ist entweder ein Held, oder er spinnt. Wo aber hört der Held auf und der Spinner beginnt? Zum Glück gibt es auch milde und freundliche Wörter, die nicht polarisieren, zum Beispiel "verrückt".

•   Ich habe die tausend Meter unter drei Minuten geschafft – Whow Opa, du bist ja verrückt (irgendein anderer Opa muss das wohl sein….).
•   Herzlichen Glückwunsch zu deinem Geburtstag! – Wahnsinn, du bist ja verrückt, dafür extra aus Australien herzukommen….
•   Opa ist verrückt geworden: Er hat aus seiner Rente kleine Papierflieger gemacht und sie aus dem Fenster geworfen.

"Verrückt". Ein ganzes Stück weit, oder auch nur ein paar Millimeter, jedenfalls weg von dem Punkt, wo jemand vermutet wird ("vermutet" mit leicht hochgezogener Augenbraue, ungefähr so wie bei "supposed to be"). "Verrückt" transportiert kein einheitlich vorgefertigtes Werturteil. Von Bewunderung bis Geringschätzung ist alles drin, und "ein bisschen verrückt" klingt sogar liebevoll.

Dagegen "Demenz": Ein Wort wie ein Hammer.

"Demenz": Weitgehende Unbekümmertheit im Alltag …

Dieser Text befasst sich mit dem Abstempelt- und Abgeschrieben-Werden der etwas verrückten, etwas vom Zentrum weggerückten Menschen. Auf sie ist das Wort von der Demenz als Hammer gemünzt. Dagegen: Menschen mit einer wirklichen, verantwortungsvoll gesicherten Diagnose Demenz. Das Abstempelt- und Abgeschrieben-Werden ist für sie nicht weniger dramatisch und inhuman. Personen, die demente Menschen pflegen und betreuen, berichten eindrucksvoll, wie bereichernd der Umgang mit ihnen ist – für beide Seiten.

Denken wir ab jetzt an die Grenzfälle, denen die Bequemlichkeit des Alltags einen Stempel verpasst, mittels dessen sich das Umfeld lossagt von der Pflicht, dem betroffenen Menschen mit allen seinen Limitierungen, aber auch Fähigkeiten immer wieder differenziert, empathisch, liebevoll und angemessen zu begegnen. Stellen wir uns vor, wie ein Mensch, wenn er älter wird, allmählich von dem Punkt wegrückt, an dem er früher gewesen ist. Das kann zunächst rein physisch bedingt sein. Jemand hört nicht mehr gut und gewöhnt sich an, etwas zu antworten, von dem er meint, es könnte passen – leider passt es manchmal überhaupt nicht: Klares Zeichen von beginnender Demenz? Oder seine Finger sind mit der Zeit immer krummer geworden, und derentwegen hasst er es, immer wieder mit diesen winzigen Figuren "Mensch ärgere dich nicht" spielen zu sollen. Aus Zorn über sein Handicap schmeißt er eines Tages alle Steine um: Klares Zeichen von Demenz?

Und dann die Menschen, bei denen sich zwar ein Teil des Denkens selbstständig macht, während jedoch andere Abteilungen weiterhin prima "funktionieren". Da ist der 90-jährige Mann, den plötzlich die Vorstellung übermannt, er sei berufstätig, und der sich von da an über Wochen mit einem Termin quält, den er nicht einhalten kann und der in seiner Welt unumstößlich real ist. Im Heim schmeißen sie ihm, so fühlt er es, nur Knüppel zwischen die Beine: Wir sind hier kein Büro, sagen sie, als er eine Schreibmaschine verlangt. Am nächsten Tag scheint alles vorbei zu sein: Der Mann erklärt er seinem Enkel eine Passage aus "Faust", klar und kenntnisreich. Doch einen weiteren Tag später beklagt er sich voll Zorn, dass sich immer noch niemand um seine Schreibmaschine gekümmert hat. Es ist so furchtbar bitter: Ich kann sein Problem nicht lösen, solange ich ihm meine Welt, die "normale" Welt, erklären will. Das zu lernen ist eine harte Schule. Ich muss die Sache mit ihm gemeinsam in seiner Welt lösen. Ich muss lernen, dass ich keineswegs seine Menschenwürde verletze, wenn ich sein Spiel mitspiele. Weil es doch für ihn keines ist, sondern unumstößliche, bedrängende Wirklichkeit. Beim ersten Mal ist das eine bittere Erfahrung, und doch ist es gut, wenn es uns beiden am Ende gelingt.

Demenz wird leicht zum Stigma, das nicht die Krankheit beschreibt, sondern den ganzen Menschen aus dem Spiel nimmt: Ich kümmere mich nicht darum, was genau mit deinem Denken und Fühlen los ist, was du kannst und was nicht, auch nicht darum, worunter du leidest, und wie ich dieses Leiden vielleicht ganz leicht lindern kann. Ich stemple dich als Person mit all deinen Facetten: Es lohnt sich nicht mehr, dich differenziert anzusehen, du bist ja dement. Es lohnt sich nicht mehr, deine Wünsche und Bedürfnisse zu erforschen, du bist ja dement (und ich gottlob normal). Das betrifft nicht nur die "Grenzfälle", sondern in gleicher Weise alle, die von einer schweren, ihr gesamtes Dasein bestimmenden Demenz betroffen sind. Die Haltung, mit der ihnen zu begegnen ist, bleibt gleich, nur Mittel und Ebene der Kommunikation können sich schrittweise ändern.

… und dagegen größtmögliche Zurückhaltung in der Philosophie!

Cogito, ergo sum! Ich denke, also bin ich. Käme je ein Nicht-Philosoph auf den Gedanken, sich seiner Existenz eigens zu versichern? Was folgt daraus, aus dem "Cogito, ergo sum"? Philosophisch folgt nicht einmal, dass auch du existierst. Es könnte ja sein, dass einzig mein Denken existiert, und ein bösartiger Geist mir den Rest nur vortäuscht: meinen Körper, meine Wahrnehmungen, mein Umfeld – einfach alles. Unfug? Na, ja, praktisch gesehen schon. Aber beweisen Sie doch mal, dass es Unfug ist! Sie werden erkennen: Es ist nicht möglich. Solipsisten heißen die Leute, die diesem Gedanken anhängen. Demenz? Weit gefehlt! In der Überlegung von René Descartes sehen wir ganz im Gegenteil einen Meilenstein der Philosophie-Geschichte. Sie zeigt uns, wie schwach die Fundamente sind, auf die wir unsere vermeintlichen Sicherheiten gründen.

Was wissen wir denn schon über uns und unser Denken! – Schau das frische Grün an den Bäumen an, ist es nicht wunderschön? – Ja! Wirklich schön! Der Haken ist nur: Ich werde niemals erfahren, welches Bild die Farbe Grün in deinem Kopf erzeugt. Vielleicht dasselbe wie bei mir Blau? Vermutlich nicht, aber beweisen? – Es braucht schon etwas Training, um zu erkennen, dass diese Frage eine Frage ist und dass sie sich nur pragmatisch, aber nicht philosophisch oder naturwissenschaftlich beantworten lässt: ein verstörender Gedanke. Das ist grün, ich sehe es doch mit meinen eigenen Augen! – Eben, darin liegt ja das Problem. Das Auge beliefert mein Gehirn mit messbaren Signalen. Aber was macht das Hirn damit? Mein Hirn? Dein Hirn? Tun beide Hirne wirklich genau dasselbe? Plötzlich sehen wir Dinge wanken, deren wir uns von Kindheit an so gewiss waren. Wir sind uns darüber einig, welche Farbtöne wir als "grün" benennen (auch hier: Grenzfälle ausgenommen …), aber wir wissen nicht einmal bei dieser banalen Sache, so wird uns jetzt bewusst, ob wir tatsächlich dasselbe empfinden! Ganz schön verrückt, nicht wahr?

Mit anderen Worten: Ich kann den Kosmos meines Denkens und Empfindens nur oberflächlich mit anderen teilen, so wenig, wie sie den ihrigen mit mir. Nehme ich daher einen bedachtsamen, philosophischen Standpunkt ein, wird es dadurch nicht nur noch schwieriger, "normal" auf eine vernünftige Weise von "verrückt" abzugrenzen. Auch die Behauptung, dass es überhaupt eine Norm gebe, und dass diese erkennbar sei, wird jetzt kompliziert. Erst, wenn wir René Descartes‘ methodische Zweifel zur Seite gelegt haben, können wir unser praktisches Leben ungestört weiterleben.

Wenn Sie zuvor die erste Kolumne gelesen haben, werden Sie einen (scheinbaren) Widerspruch bemerken. Dort war die Rede davon, dass die Fixierung auf die Rationalität als Leitstern unseres modernen Denkens einem freundlichen, verstehenden und liebevollen Umgang mit Menschen, die an Demenz leiden, nicht förderlich ist: Philosophie "auf dem hohen Ross". Hier nun argumentiere ich, dass die Philosophie sämtliche Grundlagen unserer Wahrnehmung und damit alle vermeintlichen Sicherheiten radikal in Frage stellen würde: Philosophie "in tiefer Demut". Der Widerspruch löst sich auf, wenn wir uns vorstellen, dass sich die Fixierung auf Rationalität auf die logische Arbeit des Gehirns mit den von den Sinnen gelieferten "Daten" bezieht, während die hier angesprochene Verunsicherung die Frage betrifft, was von dem, was wir scheinbar/anscheinend sehen, tatsächlich so existiert. Die Angst wegen des drohenden Termins ist vom Gehirn autonom produziert – "irrational". Die Angst vor Indianern, die von draußen mit Pfeilen auf mich schießen, kann (muss vielleicht nicht) der (Miss)-Interpretation von Signalen aus dem Auge geschuldet sein.

Zwischen Philosophie und Bedenkenlosigkeit: liebevolle Pragmatik!

Ungestört? Unser praktisches Leben ungestört weiter leben? Philosophie als Popanz, der das reale Leben behindert, ist eine wohlfeile Figur. Sprechen wir deshalb, statt von Philosophie, ab jetzt von Liebe! Muss ich denn wirklich den Stempel "dement" zücken, wenn ich mit schlichten Worten beschreiben kann, wo genau der betreffende Mensch seine Schwierigkeiten hat (und damit auch: Wo er keine hat!). Meine Tante ist manchmal ein wenig verrückt, aber sie ist meine liebe Tante. Mein Opa braucht manchmal Schutz, wenn die Indianer ihn mit ihren Pfeilen jagen. Aber wenn wir sie gemeinsam vertrieben haben, ist alles wieder gut.

Neulich im Traum durchlebte ich eine besondere Phase meines Berufslebens. Aber nicht wie damals, mit mir als gefühlt autonomem Akteur, der über allen Dingen steht. Im Traum war ich gefangen in einer nicht endenden, auswegloskafkaesken Situation, die mich bis in die späten Vormittagsstunden hinein gefangen hielt. Niemand wird mir dafür "Demenz" zuerkennen, wenn mein Gehirn nachts spazieren geht und sich morgens nicht ganz pünktlich zum Dienst zurückmeldet. Aber ich kann mir jetzt vorstellen, welche Geschichte ich vielleicht mit 90 im Pflegeheim erzählen werde. Träumend oder wach: Wo bitte wird der Unterschied liegen? – Ich werde, wenn es soweit ist, ein liebevolles Umfeld haben, das mich vor dem abgestempelt-Werden beschützt. Darauf darf ich bauen.

Von Dr. Christian Thieme

 

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