Thiemes Zettel vom 01.01.2021
Glück und Erfolg im Neuen Jahr!
Nachdem Solon, der Weise, seinen Athenern um 600 v. Chr. jene Gesetze, von denen wir bis heute zehren, verordnet und ihnen den heiligen Eidschwur abgenommen hatte, sie zehn Jahre lang nicht anzutasten, ging er für eben diese zehn Jahre ---- auf Dienstreise. Auf seiner langen Reise führte ihn der Weg auch zu Kroisos, dem wahrscheinlich reichsten Herrscher der damaligen Welt. Der Name Krösus ist ja bis heute der Inbegriff von maßlosem, vielleicht auch sinnlosem Reichtum. Was am Hof jenes Kroisos geschah, erzählt uns Herodot, der Geschichtsschreiber. Nach einigen Tagen nämlich, man hatte ja Zeit und war nicht aufdringlich, nahm der reiche Potentat den weisen Staatsmann mit in seine Schatzkammer, um ihm das Beste zu zeigen, was er angehäuft hatte: Seine weltweit einzigartige Sammlung von Modelleisenbahnen.
In echt ging es natürlich nicht um Modelleisenbahnen. Kroisos hat sich für das interessiert, woran alle ordentlichen Potentaten bis heute hängen, wofür sie brennen: Reichtum und Macht. Und Reichtum konnte man damals noch besichtigen, weil er nicht wie heute aus Nummern in den Briefkästen irgendwelcher Steueroasen bestand. Also Schatzkammer.
Als nun Solon alle Schätze bewundert hatte, höflich und pflichtschuldigst, fragte Kroisos ihn, wen er, Solon, denn nun für den glücklichsten Menschen auf Erden halte. Da nannte ihm Solon seinen Favoriten und begründete seine Wahl. Natürlich fiel die Wahl nicht auf Kroisos. Bei Platz zwei das gleiche Spiel, und durch Nachfragen fing der Herrscher allmählich an zu begreifen. Eigentlich begriffen hat er aber nicht Solons Botschaft, sondern lediglich die Größe der Provokation – überrissen hat er sie, könnte man eher sagen. Die Konsequenz war klar: Nach dem dritten und letzten Versuch wurde Solon vom Hof gejagt.
Zwei Gründe hatte Solon ihm genannt. Der erste war etwas spitzfindig, nämlich dass man erst am Ende eines Lebens beurteilen könne, ob der betreffende Mensch glücklich war. Würde ich das teilen? Angesichts der Vergänglichkeit und der damals wie heute und immer drohenden Katastrophen darf sich Glück, so meine ich, im Jetzt bewegen, unbeschwert von allem, was kommen könnte, solange es sich mit Ethik und Verantwortung verbindet, nicht mit Leichtfertigkeit. Dies würde ich Solon zu seinem ersten Punkt zu bedenken geben.
Mit dem zweiten Grund immerhin hat er zu hundert Prozent Recht, und dafür hatte ich die Modelleisenbahn als Merkposten gesetzt. Denn wer auf der Welt wollte sich denn ernsthaft die Freiheit herausnehmen, für einen anderen Menschen zu bestimmen, was diesen glücklich macht, ihn also buchstäblich zu seinem Glück zwingen? Hat Kroisos das getan? Nein, aber er hat stillschweigend unterstellt, dass seine persönliche Vorstellung von Glück, nämlich Reichtum, auch die von allen anderen Menschen sein müsse. Denn ohne eine einheitliche Skala, mit der man das Glück aller Menschen messen könnte, wäre seine Frage, wer der glücklichste Mensch sei, sinnlos. Die Provokation bestand darin, dass Solon überhaupt einen Gegenentwurf hatte. Weil das bedeutet: Reichtum ist nicht die einzig mögliche Skala.
Von diesem Ende her aufgerollt sieht die Geschichte, wie ich sie bisher erzählt habe, schlüssig aus. "Wo ist denn das Problem", könnte man denken, "es ist doch klar, dass unterschiedliche Menschen auch unterschiedliche Vorstellungen haben, was für sie Glück bedeutet!"
Wann ist der Mensch glücklich?
Das ist aber nur die eine Seite. Gleichzeitig bemühte sich die Philosophie damals und immer danach um Modelle für "das Glück des Menschen". Als ich vor langer Zeit von ganz weit außen anfing, mich für Philosophie zu interessieren, war Ludwig Marcuse mein erster schriftlicher Lehrmeister. Von ihm fand ich u.a. das Buch "Philosophie des Glücks" und besorgte es mir, in der festen Erwartung, dass dort umfassend erklärt würde, wie das denn nun alles so sei mit dem Glück. Was ich bekam, war eine Sammlung von Geschichten und ein einführender Text dazu. Obwohl ich befremdet war, habe ich es gelesen. Die Quintessenz, an die sich die Leser*in durch die Lektüre der unterschiedlichen Geschichten langsam heranarbeiten musste, war denkbar simpel: Jeder Mensch verfolgt sein individuelles Glückskonzept. Warum also ein ganzes Buch für etwas, das sich in einem Satz aus 6 Wörtern sagen lässt?
Mich begeistert immer wieder neu die Stärke, mit der Ludwig II seine sehr individuelle Vorstellung von Glück verfolgt hat. In keiner Weise begeistert mich der Weg, wie er seine Mittel dazu aufgebracht hat, denn bezahlen dafür musste sein Staatsvolk. Aus diesem Grund möglicherweise musste er ja auch sterben. Nein, mich begeistert nicht die Art und Weise, wie der König sich die Grundlage seiner Freiheit verschafft hat, sondern das Selbstbewusstsein, mit der er sie nutzte. Vielleicht ist es für einen König leichter, selbstbewusst zu sein, als für unsereinen. Mag sein. Vielleicht ist es auch nicht gut, die Aufbringung der Mittel so weit von deren Nutzung abzukoppeln, dass ich ersteres missbillige und letzteres mir zum Vorbild nehme. Trotzdem irgendwie… Ein erwachsener König wünscht sich ein "Tischlein, deck dich!", einen Tisch, der wie im Märchen plötzlich gedeckt vor ihm steht. Und er bekommt es. Unfassbar, und irgendwie unfassbar schön. Hätte es schon Modelleisenbahnen gegeben – Ludwig hätte, anders als Kroisos, seine Freude daran gehabt.
An dieser Stelle meldet sich der kleine Unterdrücker, der in jedem von uns steckt. Wie kann ein ernsthafter König nur!? Dabei ist doch klar: Weder Ludwig II noch einer der Oligarchen, deren Yachten weltweit die attraktivsten Häfen fluten, ist gezwungen, den ganzen Tag ernsthafter Arbeit nachzugehen. Und wenn er sein Glück dann in Golf und Yachten sucht (und findet????), dann finden wir das irgendwie normal. Würde er alle seine Tage in einem Museum für Teddybären verbringen, na? – wäre doch seltsam, oder?
Unsereins hat weniger Mittel, aber nicht weniger Freiheit (und verbunden mit ihr nicht weniger Verantwortung!), natürlich auf der – im Vergleich zum König bescheidenen – Ebene, auf der jede*r von uns lebt, träumt und handelt. Und damit bin ich wieder bei Ludwig Marcuse und seiner "Philosophie des Glücks". Die extreme Spannweite seiner Geschichten demonstriert tausendmal plastischer als der vorherige Satz aus 6 Wörtern ("Jeder Mensch verfolgt sein individuelles Glückskonzept"), worauf es ankommt. Deshalb füttert Marcuse nicht den analytischen Verstand, der die sechs Wörter tatenlos zur Kenntnis nehmen und weiter vor sich hin analysieren würde, sondern er appelliert an uns: Trau dich, tu was, scher dich zwar um deine Lieben und um alle, für die du Verantwortung übernommen hast, aber scher dich nicht um das Gerede der anderen. Dein Glück gehört dir!
Mein eigenes Glück finden!
Im Alltag hören und reden wir häufiger vom Erfolg als vom Glück. Klar, in Finnland (oder war es Dänemark?), leben die glücklichsten Menschen. Das Internet ist überhaupt voll von "glücklichsten" Menschen und Völkern, und glücklich ist der der Gewinner im Lotto. Klar lebe ich in der Südsee glücklicher als in einem Kohlebergwerk, überspitzt gesagt. Mit diesem Kontrastpaar verletze ich garantiert niemanden und Sie verstehen, was ich meine. Solche Faktoren können in jeder Glücksstudie zweifelsfrei abgefragt werden. Aber nicht alle Kriterien sind so unzweifelhaft. Nicht hinter jedem würden sich alle Menschen zustimmend versammeln. Deshalb immer im Auge behalten: Jedes statistische Glück ist ein Stück weit ein normiertes, ein an durchschnittlichen Empfindungen gemessenes, und damit ein "repressives" Glück, nämlich Glück, das sich nicht nach meiner eigenen Skala richtet, sondern zu dem die Statistik mich verführen will. Mein eigenes Glück finde und suche ich selbst!
"Finde und suche?" Findet man nicht vielmehr das, was man vorher gesucht hat und nicht umgekehrt? Natürlich ist das so. Aber das erste Finden ereignet sich im Kopf. Das ist hier gemeint und dazu will Ludwig Marcuse ermutigen. Im Kopf das Ziel finden, nach dem ich anschließend im Leben suche – und das sich dort dann hoffentlich erfüllt.
Wir hätten das ganze Thema ebenso gut mit dem Kriterium "Erfolg" besprechen können, denn die Fragen sind fast deckungsgleich. Aber zum Erfolg gibt es weniger gute Geschichten, und die, die es gibt, gehören meistens in die Rubrik Business. Für große Unternehmerpersönlichkeiten bedeutet der Erfolg des eigenen Unternehmens vielleicht tatsächlich die Erfüllung ihres Lebenstraums. Aber gilt das auch für jedes schlaflose Mitglied des mittleren oder oberen Managements, das vom Umfeld für seinen "Erfolg" bewundert und vielleicht beneidet wird? Und von dieser Bewunderung immer weiter vorangetrieben wird? Verfolgt jeder dieser Manager wirklich noch SEIN Ziel?
Lassen Sie sich nicht irre machen. Wenn maximales berufliches Fortkommen für Sie Erfolg bedeutet, weil es das Ziel ist, nach dem Sie streben, und damit Glück, wenn sie es erreichen, dann sage ich: GO FOR IT! Hold on, bleiben Sie dran! Freuen Sie sich über das Erreichte, oder besser: an dem Erreichten. Der nächste erfolgreiche Schritt bedeutet für Sie ja dann nicht eine weitere Kerbe im Colt, sondern dient der Gestaltung ihres Lebens.
Und wenn das Ziel, nach dem Sie streben, und damit ihr Glück, wenn sie es erreichen, ein ganz anderes ist, was vielleicht außer Ihnen kein einziger Mensch auf der ganzen Welt verstehen kann, denn sage ich: GO FOR IT! Hold on, bleiben Sie dran! Freuen Sie sich über das Erreichte, oder besser: an dem Erreichten. Auch wenn niemand versteht, wie glücklich Sie sind. Was schert es Sie!
Mit so viel Vorrede ist mein Wunsch für Sie ganz einfach: Glück und Erfolg in 2021!
Von Dr. Christian Thieme
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