Thiemes Zettel vom 26.11.2020
Vorurteile
Ein alter Mann spielt Schach im Park. Unbesiegt seit Jahr und Tag steht er und wartet auf Gegner. Er gewinnt, aber er ist kein Sieger. Jeder im Park kennt ihn, aber ein Freund ist nicht dabei. Heute nun wird er seinen Meister finden, endlich, sagen die Leute. Der da kommt, ist zielstrebig, locker, lässig gekleidet, einfach durch und durch überlegen. Das sieht man schon von weitem. An dem wird er scheitern, der zerknitterte Alte. Und da steht er auch schon. Sie wechseln einen kurzen Blick, der Sieger und der Alte, und schon wird wortlos aufgebaut. Es ist, als ginge ein stummes Raunen durch den Park. Die Zahl der Umstehenden wächst. Das Drama beginnt.
Mit welcher Leichtigkeit der Fremde seine Figuren zieht, unfassbar. Eben ein Sieger, endlich. Der Alte hört die stumme Begeisterung, die nicht ihm gilt, so wie sie nie ihm gegolten hat. Er fühlt die Einsamkeit, die ihn und sein Spiel umgibt, und spielt bedächtig, wie stets, Zug für Zug. Der Sieger verliert eine Figur um die andere – und mit jedem Verlust rast die stumme Menge lauter. Welche Überlegenheit. Wie zielstrebig er vorgeht! So viel Risiko nimmt er in Kauf, wahrlich ein ganz Großer.
Wahn und Wirklichkeit: Immer weiter öffnet sich die Schere. Erst im allerletzten Moment lässt Patrick Süskind sie zuschnappen und alles zerschneiden, was vorher war. Der vermeintliche Sieger kickt seinen König locker um und verlässt den Schauplatz so strahlend, wie er ihn betreten hatte. Der Alte wird nie mehr Schach spielen, und zurück bleibt eine düpierte Menge. Ein Kampf heißt diese wunderbare Geschichte.
Zum Glück passiert mir sowas nie. Zum Glück falle ich nie auf Leute rein, denn zum Glück erkenne ich Stärken und Schwächen auf den ersten Blick – und handle danach. Von Äußerlichkeiten lasse ich mich weder blenden noch abschrecken. Würden Sie mir das glauben? – Ich mir selber auch nicht, obwohl ich es so gerne so hätte.
Menschenkenntnis und Vorurteil hängen zusammen wie die zum Beten gefalteten Hände. Versuche, sie mit dem Messer zu trennen, und du bekommst ein Blutbad, egal, wo und wie du den Schnitt ansetzt. Wobei es manchmal nur darum geht, auf welchen freien Platz in der S-Bahn ich mich setze, und ein andermal hängt von meinem (Vor?)Urteil so viel ab. Manchmal habe ich effektiv nur diesen einen Augenblick, und ein andermal gibt (oder gäbe) es zusätzliche Informationen. Urteile von Dritten, wie z.B. Zeugnisse oder Gerede, Personalakten, Bewerbungsmappen usw. Soll ich ihnen vertrauen? Oder lieber meinem eigenen Urteil? Schwierig.
Wahlunterricht Italienisch, gut 50 Jahre ist das her. Ich war in dieser Zeit kein netter Schüler, das muss ich unumwunden zugeben. Aber Italienisch wollte ich wirklich lernen. Dann kam ein Diktat, und es ging um die Blumen in meinem Garten. Rosa heißt Rose, und tulipano ist das Wort für Tulpe. Und was würden Sie sagen, wenn Sie die Lösung nicht kennen, was bedeutet virgola? In meinem Diktat war es eine Blume, die immer zwischen zwei anderen stand, zwar etwas komisch, aber was sonst sollte es denn sein?! Virgola heißt Komma.
So weit, so gut. Das dicke Ende kommt jetzt: Für sowas bist du ja bekannt, hörte ich die junge Lehrerin sagen. So lernte ich indirekt meine Schülerakte kennen. Wie gesagt, ich war nicht immer nett als Schüler. Und doch fühlte ich mich hier getroffen. Ich wollte doch wirklich nur Italienisch lernen und nicht blödeln. Hätte sie die Akte vorher nicht gelesen, hätte sie wohl gelacht. Wieder schwierig.
Zweimal in meinem Berufsleben habe ich mich bei einer Einstellung über mein "Bauchgefühl" hinweggesetzt. Es wäre doch schlimm, wenn es mir als Vorgesetztem nicht gelingen sollte, zu dieser Person trotz meines Vorurteils ein positives Verhältnis aufzubauen! Beide Male ist das gründlich schiefgegangen. Wieder schwierig.
Vorurteil bedeutet, nicht alle Information zu nutzen, die man hätte oder bekommen könnte. Wobei, das muss man sehen, jedes Urteil, wirklich jedes, auf einer mehr oder weniger lückenhaften Information besteht. Auch wenn wir das so und so oft nicht wahrnehmen, weil wir den Teil der Information, den wir sehen können, als hundert Prozent wahrnehmen und den fehlenden Rest ausblenden. Dabei ist es egal, ob ich eine Tüte "Bio-Milch" kaufe oder einen anderen Menschen beurteile. Allerdings sprechen wir nur dann von einem Vorurteil, wenn wir es mit Kritik verbinden. Im anderen Fall finden wir andere Vokabeln dafür, wie etwa Erwartung, Sorge, Erfahrung, Eindruck, Wissen, Ablehnung, Vertrauen, Meinung, Wissenschaft, Pragmatismus u.a. Was natürlich nicht heißen soll, dass beispielsweise Wissenschaft und Vorurteil gleichzusetzen wären.
Ich meine das übrigens keineswegs defätistisch. Bert Brecht lässt seinen Herrn Keuner auf die Frage nach dessen aktueller Beschäftigung antworten: Ich habe viel Mühe, ich bereite meinen nächsten Irrtum vor. Wenn ich die Fehlbarkeit meines (Vor)Urteils jederzeit in Rechnung stelle und bessere Einsicht nicht als Niederlage erlebe, habe ich viel gewonnen. Dann darf ich auch weiterhin und ungeprüft an dem Grundsatz festhalten, dass ich zu wenig wohlhabend bin, um Billigprodukte zu kaufen, wohl wissend, dass vereinzelt der Testsieger auch mal vom Discounter stammt.
So viel zum Umgang mit meinen eigenen Urteilen und Vorurteilen.
Apropos bessere Einsicht: Im politischen Diskurs, falls man ihn manchmal noch so nennen möchte, erleben wir immer öfter die Heiligsprechung der Meinung. Es scheint, als stünde Meinung für manche Menschen über der banalen Wahrnehmung, erst recht über komplexeren wissenschaftlichen oder empirischen Zusammenhängen, auch über den Gesetzen der Logik und vielleicht auch über der subjektiven Wahrheit. Gut, dass ich das vielleicht noch eingefügt habe! Hätte ich es nicht, --- Vorurteil. Warum soll ich meinem Gegenüber, nur weil ich seine Ansichten idiotisch finde, unterstellen, dass er sich selbst belügt?
Schauen wir uns um auf der Welt. Wir sehen zunehmende Polarisierung, nicht nur in USA. Wir sehen die Entfremdung vieler von den Werten und Institutionen unserer Gesellschaft. Wir erleben die zunehmende Schwierigkeit, mit Menschen, die sich in ihrer Vorurteils- und Wohlfühlblase verschanzt haben und aus ihr heraus nach allem, was sich rührt, mit Meinung werfen, einen angemessenen Dialog zu führen.
Die meisten von uns sind keine Sozialarbeiter. Aber kaum einer kann von sich sagen, er oder sie hätte niemals Begegnungen, die zu dieser Beschreibung passen. Was tun wir dann? Mischen wir uns ein, beziehen wir Stellung, wenn sich die Situation bietet? Finden wir den angemessenen Ton? Geht es uns, wenn wir agieren, um die betreffende Person selbst oder/und ggf. auch um Umstehende, die vielleicht interessiert zuhören?
Und was leitet uns, wenn wir nicht agieren? Ich glaube, es ist nicht immer die Angst vor körperlichen Attacken oder rüden Beschimpfungen. Nicht selten, so scheint mir, und ich schließe dabei von mir auf andere, steckt dahinter eher Hilflosigkeit. Wie reagiere ich, wenn jemand über mir einen Kübel voll von Vorurteilen und Ressentiments ausleert? Wie finde ich Worte, die zugleich freundlich, aber unmissverständlich in der Abgrenzung und verständlich in der Botschaft sind?
Viele Gelegenheiten habe ich nicht. Aber ich habe mir zum Vorsatz genommen, von den wenigen keine mehr vorbeigehen zu lassen, ohne ein angemessenes Wort wenigstens versucht zu haben. So bediene ich zumindest nicht das bequeme Vorurteil, dass ja sowieso nichts zu machen sei.
Vorurteile – das Thema ist uferlos! Haben wir noch Lust zu einem letzten Gedanken? Na dann.
Tempora mutantur, et nos mutamur in illis. Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in ihnen. Das ist nicht wirklich antik, sondern nur ein paarhundert Jahre alt, aber irgendwie natürlich doch aus der Antike. Ovid hatte einen ähnlichen Vers, und von ihm hat jemand den obigen Satz abgeleitet. Eigentlich geht es um das Altern. Darum, wie wir auf der Zeitachse beständig weitergeschoben werden, ob es uns gefällt oder nicht. Aber manchmal bleiben wir auch einfach stehen und bemerken nicht, wie sich die Zeit heimlich an uns verbeischleicht. Als mittlerweile einer der Älteren kann ich das beurteilen ….
Da habe ich mich also vor Jahr und Tag intensiv und sorgfältig über ein Thema schlau gemacht und mir ein Urteil gebildet. Schließlich war mir die Sache wichtig, und ich wollte keine halben Sachen machen. Gut, dass ich das jetzt für immer weiß! – Wirklich für immer? Oder ist es nicht manchmal so, dass sich die Tatsachen, die damals maßgebend waren, ganz allmählich oder auch ruckartig verändert haben, ohne dass ich mir das bewusst gemacht hätte?
Die Anbieter von Handy- oder Stromtarifen nützen das systematisch aus, indem sie mir einmal das Gefühl geben, ich hätte jetzt ganz doll verglichen und damit die Frage des günstigsten Angebots (für immer) geklärt. Und dann hoffen sie, dass ich möglichst lange in diesem Glauben verharren möge. Das ist ein Beispiel, aber es geht nicht nur um die paar Euro für den Handyvertrag.
Der gleiche Effekt ist nämlich auch im Spiel, wenn ich versuche, meine mühsam gesammelten Lebenserfahrungen an die nächste oder übernächste Generation weiterzugeben. Das kann gut gehen, und nichts ist schöner als ein geglückter Generationen-Dialog. Damit er aber Chancen hat zu gelingen, bin ich als der Ältere gefordert, sorgsam zu prüfen, ob denn das Umfeld, in dem meine eigenen Erfahrungen gewachsen sind, noch zu dem passt, was heute auf die Jüngeren einwirkt. Kann ich mit JA antworten, ist es einfach. Bei einem klaren NEIN ebenso, nur umgekehrt. Dann braucht es die Größe, das vor mir selber einzugestehen.
Meistens ist es vielleicht ein "halb und halb". Das öffnet die Tür zu einem Dialog, von dem am Ende beide etwas haben. Damit nicht aus dem begründeten Urteil von damals allmählich ein Nach-Urteil wird, als spezielle Form des Vorurteils: Vom Zeitablauf ins Unrecht gesetzt. Aus dem gleichen Grund warnen Historiker davor, Gegenwartsprobleme mittels historischer Analogien lösen zu wollen. Freilich sind dort noch viel größere Zeitintervalle im Spiel, und das Problem verschärft sich entsprechend. Wenn du deinen Feind nicht besiegen kannst, verbünde dich mit ihm. So lebe ich recht friedlich mit meinen Vorurteilen und ihrer Verwandtschaft, solange sie sich anständig benehmen und an meine Regeln halten. Wenn sie aber zudringlich werden und mich in den Sumpf locken, weise ich sie scharf zurecht – bilde ich mir wenigstens ein.
Von Dr. Christian Thieme
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