Kolumne August 2019
Himmelsstürmer
Auf dem Vorplatz des Kulturbahnhofs in Kassel steht eine Skulptur. Sie stammt von dem US-Amerikaner Jonathan Borofsky. Der Titel seines Kunstwerks lautet „Man walking to the sky“, als deutsche Übersetzung hat sich der Begriff „Himmelsstürmer“ durchgesetzt. Das Kunstwerk hatte Borofsky 1992 für die documenta IX – eine großangelegte Kunst-und Medienausstellung, entworfen. Sie besteht aus einer Stahlröhre von 25 Metern Höhe und 50 Zentimetern Durchmesser. Die Röhre ist mit einem Neigungswinkel von 63° aufgestellt. Sie trägt ungefähr am Beginn des letzten Drittels eine bemalte Fiberglasfigur. Diese wiederum zeigt einen Mann in violettem T-Shirt und gelber Hose. Mit zügigen und zugleich leichten Schritten scheint er nach oben, einem unbekannten Ziel entgegen zu gehen. Die Figur vermittelt den Eindruck, dass weder Angst vor einem Sturz aus dieser großer Höhe noch die Gesetze der Schwerkraft den Menschen zurück halten können. Er scheint tatsächlich ein richtiger „Himmelsstürmer“ zu sein. Diese Skulptur ist ein Bild voller Selbstvertrauen und Zielstrebigkeit.. Es ist ein Mut-Mach-Kunstwerk, das auch heute wieder, auf dem Hintergrund vieler Ängste, besonders zur Wirkung kommt: Die Menschen, die sich am Fuß der Skulptur versammeln und nach oben blicken, fragen unwillkürlich: Wie wäre es, wenn ich diese Figur wäre? Ist es möglich, den Gesetzten unserer Welt zum Trotz und angesichts aller Ängste, auch mein ganz eigenen, etwas zu wagen? Was lässt mich die richtige Balance finden, was hilft, nicht ängstlich auf die Gefahr nach unten zu schauen, sondern den Kopf nach oben zu richten? Die Antworten auf solche Fragen soll sich, so ist das Anliegen des Künstlers, der Betrachter selbst geben. Mir fallen dazu biblische Geschichten ein, die ähnliche Bilder aufnehmen. So wie die aus dem 1. Buch Mose, dem 28. Kapitel: Hier wird erzählt, wie Jakob, nachdem er seinen Bruder Esau um dessen Erstgeburtsrecht betrogen hat, fliehen muss. Ich lese die sich anschließenden Verse:
„Aber Jakob zog aus von Beerscheba und machte sich auf den Weg nach Haran und kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an der Stätte schlafen.
Und ihn träumte und siehe eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder.
Und der Herr stand oben darauf und Sprach: Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden und du sollst ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden und durch dich und deine Nachkommen sollen Geschlechter auf Erden gesegnet werden. Und siehe ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.
Als nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er: Führwahr, der Herr ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht!
Und er fürchtete sich und sprach; Wie heilig ist diese Stätte. Hier ist nichts anderes als Gottes Haus und hier ist die Pforte des Himmels.
Und Jakob stand früh am Morgen auf und nahem den Stein, der er zu seinen Haupten gelegt hatte, und richte ihn auf zu einem Steinmal und goss Öl darauf und nannte die Stätte Bethel.“
Die folgenden Kapitel erzählen von dem langen, oft gefährlichen, schmerzhaften und mühsamen Weg, den Jakob geht. Tatsächlich ist dieser Weg oft eine Gradwanderung zwischen Erfolg und Untergang. Es ist eine Geschichte des ständigen Aufbruchs, der Überwindung von Angst, aber auch von Gewohnheit. Es ist ein ständiges sich Einlassen auf neue Lebensabschnitte, auf eine veränderte Welt. Aber Jakob geht ihn weiter und sieht am Ende seines Lebens die Verheißung Gottes an ihm, den Schalom, den inneren Frieden, erfüllt. Was ihn und unzählige Generationen nach ihm ermutigt und gehalten hat, das ist der Zuspruch Gottes, nicht von seiner Seite zu weichen. In jeder Minute, in der wir uns diesen Zuspruch vergegenwärtigen, ist Gott ganz nahe, da berühren Himmel und Erde. In einem modernen Lied wird dieser Gedanke schön aufgenommen.
„Wo Menschen sich vergessen, die Wege verlassen, und neu beginnen, ganz neu. Da Berühren sich Himmel und Erde, dass Frieden werde unter uns, da berühren sich Himmel und Erde, dass Friede werde unter uns.
Wo Mensch sich verschenken, die Liebe bedenken, und beginnen ganz neu. Da berühren sich Himmel und Erde, dass Frieden werde unter uns.
Wo Menschen sich verbünden, den Hass überwinden und neu beginnen, ganz neu. Da berühren sich Himmel und Erde, dass Frieden werde unter uns.“
Mit freundlichen Grüßen
Pfarrerin Birgit Reichenbacher