Kolumne Oktober 2019
Die Schallplatte – mehr als Nostalgie
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Es ist Herbst. Die Zeit, in der man gerne im Haus bleibt, aufräumt, sortiert. Es ist die Zeit der Flohmärkte, wo sich altes, nicht mehr gebrauchtest sammelt und den Besitzer wechselt. Der Reiz liegt in den Gegenständen, die gerade nicht nötig sind, längst durch anderes ersetzt wurde, die aber ein Gefühl der Nostalgie, der Erinnerung auslösen.
So wie die Schallplatte. Sie ist fast schon ein Relikt, auf jeden Fall ein Gruß aus einer anderen Zeit. Kinder kennen kaum noch die Schallplatte, sondern nur noch die kleinen handlicheren CDs. Erinnerung: sorgfältige Behandlung, nicht hineinfassen, möglichst wenig Hautkontakt.
Auf den Flohmärkten gibt es sie noch in großen Mengen, oftmals ohne Hülle. So stehen sie da, wie nackt.
Es geht eine Faszination von den schwarzen Scheiben aus: alle sehen sie gleich aus, man weiß nicht, was die Spuren, eingegraben in diese Platte, beinhalten.
Ist es eine aufwühlende Oper von Richard Wagner oder die kleine Nachtmusik von Wolfgang Amadeus Mozart?
Ist es eine Rede, aufgenommen auf einem freien Platz mit viel Hintergrundgeräusche oder ein Märchen mit verteilten Rollen?
Manchmal sieht man Kratzspuren und weiß, hier wird die Nadel springen so wie bei meinem eigenen Schallplatten aus der Kindheit und Jugend, die ich so oft gehört habe, dass mir auch jeder Rillensprung vertraut war.
Um das Geheimnis zu lüften, das sich hinter dem Fundstück verbirgt, muss ich es anhören. Nicht immer gefällt mir, was ich höre, aber immer wieder werde ich auf diese Weise in eine andere Zeit hineingenommen, manchmal sogar in ein anderes Leben. Auf diese Weise habe ich schon so manche Kostbarkeit gefunden – nicht im materiellen Sinn, aber Momente besonderer Tiefe oder Freude.
Die Schallplatte ist für mich ein Bild für unser Leben. Wir alle tragen Spuren, die uns zu dem machen, was wir sind: Melodien all der schönen Erlebnisse, die wir machen konnten: in der Natur, mit einem geliebten Menschen, mit der Familie, mit einem guten Buch. Da sind aber auch aufwühlende, aggressive, beängstigende Töne, die gleichberechtigt ihre Spur ziehen. Gleichmäßig läuft der Tonarm über all die Höhen und Tiefen und bringt sie durch seine Berührung zu Gehör. So wie Schallplatte ihren Sinn darin entfaltet, dass sie das, was ihr eingeprägt wurde, erklingt, so brauchen wir als Menschen ebenfalls das Interesse, das offene Ohr, das uns ermutigt, unsere Lebensmelodien preiszugeben. Auch mit den Kratzern, die so manche Passage durchkreuzen.
Und auch dies ist der Schallplatte eigen: Ich kann mich erinnern, wie ich als Kind fasziniert zugeschaut habe, wie der Tonarm konsequent auf die Mitte zugelaufen ist, sich dann gehoben hat und sich wieder auf die Vorrichtung gelegt hat, bis ich ihn wieder vorsichtig auf den äußersten Rand aufgesetzt habe.
Das Konzert, die Geschichte ist dann fertig, wenn die Mitte erreicht ist. Das ist ein durchaus christliches Symbol. Es erinnert mich an das Labyrinth und an den Weg darin, der – im Gegensatz zum Irrgarten – immer zum Ziel führt.
Gerade im Ziel blicken wir nicht nur zurück und betrachten unser Leben, das was war und uns geprägt hat, sondern blicken auch nach vorne, auf das Ziel, das zugleich Sinn ist. Der christliche Glaube verheißt uns, dass unsere Lebensmelodie nicht abbricht, sondern dass wir zur Mitte finden, zu uns selbst, zu Gott. Und zwar mit allem, was wir bis dahin an spitzen und sanften, hohen und tiefen Tönen, an vollen und lauten, ebenso wie an zarten und zurückhalten Tönen erfahren haben.
Es ist aber nicht nur die Verheißung, sondern vor allem die Einladung, das, was wir täglich in unserem Herzen tragen, vor Gott zu bringen, dessen Ohr für uns geöffnet ist.
Lesung: aus: Jes 43:
1. Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!
2. Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen; und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen.
3. Denn ich bin der HERR, dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland.
4. weil du in meinen Augen so wert geachtet und auch herrlich bist und weil ich dich lieb habe. AMEN
Mit freundlichen Grüßen
Pfarrerin Birgit Reichenbacher