Kolumne Januar 2022
Luther und die Gummibärchen
Kennt jemand noch das „Tagebuch eines frommen Chaoten“? Anfang der 1990er-Jahre war das der Bestseller unter den Jugendlichen unserer kleinen fränkischen Kirchengemeinde. Der Brite Adrian Plass nahm darin heiter-ironisch seine evangelikal angehauchten Mitchristen aufs Korn. Da wir mit Jugend- und Lobpreisgottesdiensten, Hauskreisen und Bibelfreizeiten seinerzeit ganz ähnlich unterwegs waren, fühlten wir uns nicht selten selber ertappt – konnten aber meist herzlich über uns selber lachen.
Eine Eigenschaft des frommen Chaoten ist mir bis heute gut in Erinnerung geblieben: Er maß die Sonntagspredigten, die er in seiner Gemeinde hörte, in Gummibärchen. Genauer: in der Anzahl, der von ihm während der Predigt gegessenen Gummibärchen. Ein ähnliches Verhalten legten übrigens unsere Kinder in ihren früheren Tagen in der Friedenskirche an den Tag. Allerdings aus etwas irdischeren Gründen.
Der Zusammenhang von Süßem und Theologischem hat dabei einen durchaus historischen Hintergrund. Im Judentum wird das Erlernen der Buchstaben schon früh von einer süßen Tradition begleitet. Der Lehrer schreibt auf einer Schiefertafel die ersten und die letzten Buchstaben des Alphabets. Die ersten vier Buchstaben vorwärts, die letzten vier rückwärts. Er liest sie vor. Der Schüler spricht sie nach. Dann bestreicht der Lehrer die Schreibtafel mit etwas Honig, und der Schüler darf diesen von den Buchstaben lecken. So lernt er das Alphabet von vorne und von hinten. Das Erlernen der Buchstaben ist der verheißungsvolle und süße Weg hin zum Erlernen der Heiligen Schrift – und so der Weg zu Gott.
Für Martin Luther bildete die Auslegung der Heiligen Schrift bekanntlich das Zentrum des Gottesdienstes. „Der Prediger, oder welchem es befohlen wird“, so schreibt er in seiner Schrift Von der Ordnung des Gottesdienstes von 1523, soll „herfur treten, und dieselb Lection ein Stuck auslegen, daß die Andern alle verstehen, lernen und ermahnet werden.“ So gilt es bei uns Lutheranerinnen und Lutheranern im Kern bis heute. Auch in unserer Friedenskirche.
Im Alten Testament findet sich dazu ein schönes Bild für den Zusammenhang von Süßem und Theologischem beim Propheten Hesekiel, dem von Gott bei seiner Berufung in einer Vision eine Schriftrolle gereicht wird. Und Gott sprach zu ihm: „Iss diese Schriftrolle und geh hin und rede zum Hause Israel! Da tat ich meinen Mund auf und er gab mir die Rolle zu essen und sprach zu mir: Du Menschenkind, gib deinem Bauch zu essen und fülle dein Inneres mit dieser Schriftrolle, die ich dir gebe. Da aß ich sie, und sie war in meinem Munde so süß wie Honig.“
Vielleicht war sie auch so süß, wie die Gummibärchen von Adrian Plass. Wie auch immer – aus der Süße erwächst für Hesekiel, Adrian und auch für uns eine Verantwortung. Ein Auftrag. „Seid aber Täter des Worts und nicht Hörer allein“, wie es im Jakobusbrief heißt. Nehmen wir ihn mit, diesen süßen Auftrag. Aus dem Gottesdienst. Aus der Predigt. In unseren Alltag hinein. Mit oder ohne Gummibärchen.
Ihr
Dr. Philipp Hildmann