Martin Luther King, heute gelesen, Teil 6
Heute gelesen: Texte und Anregungen in der Zeit des Wartens
Martin Luther King 1964, bei einer Pressekonferenz.
(Bild Quelle: pixabay Lizenz/nur redaktionelle Nutzung)
Der Tag seiner Ermordung am 4. April 1968 ist in diesem Jahr wenig beachtet worden. Auch die Erinnerung an seinen Ge-burtstag am 15. Januar 1929 in Atlanta scheint zu verblas-sen. Immerhin haben die US-Amerikaner seit 1983 einen „Martin-Luther-King-Day“, durch den sie am dritten Sonntag des ersten Jahresmonats an die Bedeutung des Bürgerrechtlers und Pfarrers erinnert werden. Und nahe der National Mall in der Hauptstadt Washington zieht seit 2011 das Martin Luther King Memorial viele Besucherinnen und Besucher an.
Ich möchte Ihnen in der nächsten Zeit einige der Texte von Martin Luther King zur Lektüre empfehlen. Grundlage dafür ist die Textausgabe Martin Luther King jr.: I HAVE A DREAM. WRITINGS AND SPEECHES THAT CHANGED THE WORLD, edited by James M. Washington, HarperCollins publishers 1992. Ich werde die Texte jeweils aus dem Amerikanischen ins Deutsche übertragen, empfehle aber auch eine Lektüre im Original und vor allem im Audio-Format, wenn möglich von Reverend Dr. King selbst gesprochen.
Dr. Stefan Koch
"I have an Dream"(*1) – „Ich habe einen Traum“(*2)
Viele der prägenden Sätze und Bilder dieser Rede – wohl seiner am häufigsten zitierten Ansprache – hatte Martin Luther King jr. schon zuvor verwendet. Auf den Stufen des Lincoln Memorial auf der Mall der amerikanischen Hauptstadt im Sommer 1963 gehalten, fassen sie wie in einem Kameo zusammen, was schon der Prophet Deuterojesaja (Buch des Propheten Jesaja 40-55) als allernächste Zukunft seiner Zeit am Ende des Exils benennt. Dieser zweite Jesaja forderte die Menschen seiner Generation auf, freudig zu erwarten, dass demnächst Gott auf einer großen Prozessionsstraße, zu der sich die Schöpfung selbst umformt – Täler werden erhöht, Hügel und Berge werden erniedrigt, was uneben ist wird gerade, was hügelig ist, wird eben (Jesaja 40,4) –, aus der Wüste heraufkommen wird, um wieder im Tempel von Jerusalem Wohnung zu nehmen und so die Stadt erneut zu heiligen. King formuliert die allernächste Zukunft seiner Generation – im Ergebnis ähnlich kontrafaktisch wie Deuterojesaja – als Traumerfüllung einer wieder intakten, ihres Auftrags bewussten amerikanischen Nation, in der nun die Menschen endlich so zusammenleben, wie es von Anfang an in der Erklärung ihrer Unabhängigkeit intendiert war.
… So sage ich euch, meine Freunde, auch wenn wir heute und morgen Schwierigkeiten überwinden müssen, ich habe immer noch einen Traum. Dieser Traum ist tief verwurzelt im amerikanischen Traum, dass eines Tages diese Nation aufstehen wird und die wahre Bedeutung ihres Glaubens ausleben wird: „wir halten die folgenden Wahrheiten für selbstevident, dass alle Menschen gleich geschaffen wurden“(*3).
Ich habe den (*4) Traum, dass es eines Tages auf den roten Hügeln Georgias den Söhnen früherer Sklaven und den Söhnen früherer Sklavenbesitzer möglich sein wird, am Tisch der Geschwisterlichkeit Platz zu nehmen.
Ich habe den Traum, dass sogar der Bundesstaat Mississippi, ein Staat, der unter der Hitze der Ungerechtigkeit schmachtet, der unter der Hitze der Unterdrückung schmachtet, verwandelt sein wird in eine Oase von Freiheit und Gerechtigkeit.
Ich habe den Traum, dass eines Tages meine vier Kinder in einem Volk leben werden, in dem sie nicht nach der Farbigkeit ihrer Haut, sondern der Werte ihres Charakters beurteilt werden. Ich habe diesen Traum heute!
Ich habe den Traum, dass eines Tages unten in Alabama mit seinen giftspritzenden Rassisten, mit seinem Gouverneur, von dessen Lippen Worte wie „Außerkraftsetzung“ und „Ungültigkeitserklärung“ (*5) tropfen, dass eines Tages gerade in Alabama kleine farbige Jungs und kleine farbige Mädchen die Hände halten können mit kleinen weißen Jungs und kleinen weißen Mädchen. Ich habe diesen Traum heute!
Ich habe den Traum, dass eines Tages jedes Tal erhöht werden wird, jeder Hügel und Berg erniedrigt werden wird, unebene Stellen gerade werden und hügelige Stellen eben werden [Jes 40,4] und die Gerechtigkeit Gottes offenbar wird und alles Fleisch es miteinander sehen wird [Jes 40,5a]. Dies ist unsere Hoffnung. Dies ist der Glaube, mit dem ausgestattet ich zurück in den Süden gehe.
Durch diesen Glauben werden wir in der Lage sein, aus dem Berg der Verzweiflung den Stein der Hoffnung herauszuschlagen. In diesem Glauben werden wir in der Lage sein, die klirrenden Uneinigkeiten in unserer Nation zu verwandeln in eine wunderschöne Symphonie der Geschwisterlichkeit.
In diesem Glauben werden wir in der Lage sein, miteinander zu arbeiten, miteinander zu beten, miteinander gemeinsam zu kämpfen, miteinander ins Gefängnis zu gehen, miteinander für die Freiheit aufzustehen im Wissen darum, dass wir eines Tages frei sein werden. Es kommt der Tag, an dem alle Kinder Gottes in der Lage sein werden dem Singen von ‚My country, ’tis of thee, sweet land of liberty, of thee I sing; land where my fathers died, land of the pilgrims’ pride, from every mountainside let freedom ring!‘ (*6) eine neue Bedeutung zu geben – und wenn Amerika wirklich eine große Nation ist, dann muss das wahr werden.
Deshalb lasst die Freiheit(sglocke) erklingen von den kolossalen Hügeln von New Hamshire her. (*7)
Deshalb lasst die Freiheit(sglocke) erklingen von den mächtigen Bergen von New York her.
Deshalb lasst die Freiheit(sglocke) erklingen von den sich auftürmenden Alleghennie-Bergen von Pennsylvanien her.
Deshalb lasst die Freiheit(sglocke) erklingen von den schneebedeckten Bergen der Rockies in Colorado her.
Deshalb lasst die Freiheit(sglocke) erklingen von den kurvenreichen Hügeln von Karlifirnien her.
Deshalb lasst die Freiheit(sglocke) erklingen vom Stone-Mountain-Gebirge in Georgien her.
Deshalb lasst die Freiheit(sglocke) erklingen vom Lookout-Gebirge in Tennessee her.
Deshalb lasst die Freiheit(sglocke) erklingen von jedem Hügel und Deich am Mississippi, von jedem Berg aus lasst die Freiheit(sglocke) erklingen.
Und wenn wir der Freiheit(sglocke) gestatten zu erklingen, wenn wir sie erklingen lassen von jedem Ort und von jeder Siedlung her, von jeder Stadt und jedem Bundesstaat, dann werden wir in der Lage sein, den Tag zu beschleunigen, an dem alle Kinder Gottes – farbige Männer und weiße Männer, Juden und Heiden, Katholiken und Protestanten – in der Lage sein werden sich die Hände zu reichen und die Worte des alten Liedes der Plantagenarbeiter zu singen: „Endlich frei, endlich frei, Gott dem Allmächtigen sei Dank, wir sind endlich frei“.
Hinweise und Fragen
Martin Luther King legt den Text von Jes 40 geographisch-theologisch aus, indem er die verschiedenen Höhenzüge und Gebirgssysteme einzelner Bundesstaten zu dem Ort erklärt, von dem aus die Freiheitsglocke – bis heute in Philadelphia, der ersten US-amerikanischen Hauptstadt, aufgestellt – zum Klingen gebracht wird. Letztlich verändert sich dadurch das Bildfeld aus Deuterojesaja zugunsten der Metapher aus der Bergpredigt Jesu (Mt 5-7) von der „Stadt auf dem Berg“. Ist eine solche Metaphernverschmelzung aus Ihrer Sicht biblisch-theologisch legitim?
*1)Hauptrede (‘keynote speech’) der Abschlußkundgebung beim „Marsch auf Washington”, gehalten am 28. August 1963, die auch durch die Übertragung im Fernsehen und ihre häufige Verwendung in historischen Rückblicken berühmt wurde, in: Martin Luther King jr.: I HAVE A DREAM. WRITINGS AND SPEECHES THAT CHANGED THE WORLD, edited by James M. Washington, New York 1992, pp. 101-106.
*2)Ich selbst hatte lange Jahre ein Poster mit den zentralen Passagen der Rede an der Tür meines Jugendzimmers. Heute werde ich durch rassistisch geprägte Vorfälle etwa durch weiße Polizeigewalt gegen Farbige in den USA wie Mr. Floyd in Minneapolis daran erinnert, dass es womöglich wirklich nur eine Augenblickswahrnehmung war, als Coretta King den Eindruck hatte, das Reich Gottes wäre angebrochen und im Rückblick einschränken musste: ‚But it lasted only a moment‘, in: Martin Luther King jr.: I HAVE A DREAM. WRITINGS AND SPEECHES THAT CHANGED THE WORLD, edited by James M. Washington, New York 1992, p. 102.
*3)Zitat der Anfangsworte der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776: „Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören; dass zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingesetzt werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten; dass, wenn immer irgendeine Regierungsform sich als diesen Zielen abträglich erweist, es Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen und diese auf solchen Grundsätzen aufzubauen und ihre Gewalten in der Form zu organisieren, wie es ihm zur Gewährleistung seiner Sicherheit und seines Glückes geboten zu sein scheint …“
*4) Im Original ‚a dream‘, hier von mir als „den Traum“, d.h. durch den bestimmten Artikel interpretiert.
*5) King spielt auf die Maßnahmen an, durch die die bundesgerichtliche Durchsetzung der Bürgerrechte – so etwa die Zulassung farbiger Studierender an den Universitäten 1962 – durch staatliche Dekrete einzuschränken versuchte. Der juristische Theoriehintergrund besagt, dass ein Einzelstaat das Recht hat, Bundesgesetze, die er für verfassungswidrig hält, in der Geltung zu beschränken oder auszusetzen (‚nullifikation‘) bzw. das Recht ausüben kann, die bundesstaatlichen Interessen gegen solche föderalen Maßnahmen zu schützen (‚interposition‘).
*6) Zitat der ersten Strophe von ‚My country, ’tis of thee, Sweet land of liberty, Of thee I sing; Land where my fathers died, Land of the pilgrims’ pride, From every mountainside Let freedom ring!‘, „Mein Land, es ist von dir, dem süßen Land der Freiheit, von dir ich singe. Land, wo meine Väter starben, Land des Stolzes der Pilgerväter, lasst von jedem Bergeshang den Ruf der Freiheit erschallen!“; Liedtext von Samuel Francis Smith (1831), das neben anderen Liedern bis 1931 die Funktion einer inoffiziellen Nationalhymne übernommen hatte.
*7)Im Folgenden werden Berg- und Hügellandschaften genannt, um an ‘My country‘ anzuknüpfen, aber auch um – wie im Lied – auf die Stelle der Bergpredigt hinzuweisen, in der Jesus die Jünger auffordert, ihr Licht nicht unter den Scheffel zu stellen, sondern es als Stadt auf dem Berg leuchten zu lassen, vgl. Mt 5,14f.