Kolumne April 2019
Die Chance der Stille
Die Wochen in der Passionszeit werden sehr unterschiedlich genutzt. Während die einen schon mit der Planung für den bevorstehenden Osterurlaub beschäftigt sind, nehmen andere die Fastenzeit wahr, um Abstand vom Alltag und der Geschäftigkeit zu nehmen. Geschichten, die uns zum Nachdenken bringen, haben in der Zeit vor Ostern ebenso einen festen Platz wie in der Adventszeit. So wie folgende kleine Erzählung, dessen Autor mir leider nicht bekannt ist:
Eines Tages kamen zu einem einsamen Mönch einige Menschen. Sie fragten ihn: "Was ist der Sinn von Stille und Meditation, für die Du und Deine Brüder stehen?“ Der Mönch war gerade mit dem Schöpfen von Wasser aus einem tiefen Brunnen beschäftigt. Er sprach zu seinen Besuchern: "Schaut in den Brunnen. Was seht ihr?" Die Leute blickten in den tiefen Brunnen und antworteten: "Wir sehen nichts!" Der Mönch stellte seinen Eimer ab. Nach einer kurzen Weile forderte er die Leute noch einmal auf: "Schaut in den Brunnen! Was sehr ihr jetzt?" Die Leute blickten wieder hinunter: "Jetzt sehen wir uns selbst!" "Ihr konntet nichts sehen“ erwiderte der Mönch, „weil das Wasser unruhig war wie Euer Leben. Nun aber ist es ruhig. Das ist es, was uns die Stille schenkt: Man sieht sich selber!“ Dann gebot der Mönch den Leuten, noch eine Weile zu warten. Schließlich forderte er sie auf: "Und nun: Schaut noch einmal in den Brunnen. Was seht ihr?" Die Menschen schauten hinunter: "Nun sehen wir die Steine auf dem Grund des Brunnens." Da erklärte der Mönch: "Das ist die Erfahrung der Stille und der Meditation. Wann man lange genug wartet, sieht man den Grund aller Dinge."
Diese Geschichte macht deutlich: Stille ist nicht einfach „Abschalten“, und Meditation ist keineswegs Abkehr vom Leben. Um dem eigenen Leben auf der Spur zu bleiben, die eigenen Tiefen nicht aus dem Auge zu verlieren, um dann dem Leben wieder neu begegnen zu können, brauchen wir vielmehr bestimmte Bedingungen und den richtigen Rahmen. Ein solcher Rahmen ist die Fastenzeit. Sie lädt uns ein, zur Ruhe zu kommen und uns selbst ins Herz zu blicken. Wie dies genau geschehen kann, ist durchaus unterschiedlich. Während die einen sich gleich für einige Wochen in ein Kloster zurückziehen, wählen andere eine Form, die durch die Passionszeit begleitet. Dazu gehören auch die sogenannten „Exerzitien im Alltag“, ein Angebot, das in Starnberg auf ökumenischer Ebene angeboten und dankbar angenommen wird. Manchmal genügt aber auch schon eine Andacht, ein Psalm, ein Spaziergang, um die Wellen unseres Innenlebens zur Ruhe kommen zu lassen, so dass wir uns selbst wieder wahrnehmen und daraus die Zukunft entwerfen können.
Dass uns dies in den kommenden Wochen immer wieder gelinge möge, wünsche ich Ihnen und mir von Herzen,
Ihre
Pfarrerin Birgit Reichenbacher